Schanzen im Schnee
„Du bist das Liebste, was ich habe," hatte
Sibylle zitternd erwidert, „und .... nur dich
nicht verlieren! Aber . . . ."
„Aber?"
Schmerzlich, grenzenlos schmerzlich: „Aber, . .
ich habe schon so oft geliebt, und . . jedesmal bin
ich untreu geworden, . . Thomas ..."
„Weißt du es voraus, daß du auch mir . ."
„Thomas . . . ." sie umschlang ihn mit der
ganzen Last ihrer Liebe, „Thomas, verstehe mich,
ich bitte dich . .!"
„Nein! Du liebst mich nicht!"
„Oh!" Wie ein Schrei! „Thomas, höre,
Thomas, denke, . ." sie hängte sich, nichts als
sein, an ihn, und hatte nicht mehr die Scham,
wahr zu sein und zugleich die Banguis ihres
zerrissenen Herzens zu zeigen, . . . „Thomas,
wenn wir, wir zwei, die sich über Alles
lieben, einmal, plötzlich, empfänden, daß wir an-
einander genug haben, . . . Thomas . . ."
Da hatte er sich frei gemacht. „Wenn ich offen
bin," sagte er mit zuckendem Munde, „denke ich
wie du! Obwohl ich anders denken möchte! —
Komm, Sibylle!" —
Er hatte sie, die noch nicht verstand, daß nun
der Abschied kommen müßte, mitgezogen, an den
See hinunter, und dort, unterm dämmernden
Himmel, während sie, bleichgeworden, zu verste-
hen begann und nicht mehr den Mut hatte, sich
zu wehren, oder zu lügen, ihr zum letztenmal die
Hand gereicht. —
Thomas lächelte. Sieben Jahre! Und strich
mit feiner, leiser Hand über die Rinde des Baums
und beugte sich tief auf den Boden nieder, um
auch ihn zu liebkosen, — sprang aber jäh wieder
aus, jagte sausend den Wald der Kuppe durch an
den See hinab, lief auf der Gegenüberseite eine
Viertelstunde lang steil ben gelben Birkenhügel
empor, bis er auf dem Scheideweg zwischen
Breitwang und Tannenfohl stand, atniete da tief
auf, und setzte sich müde auf einen Stein am
Wege nieder.
Als ob er deshalb, dieses Baumes halber,
gestern seinem wohlgezimmerten Leben in der
großen Stadt der Freuden davongelaufen wäre!!
Er, Thomas Altweida.
Er lachte. Häßlich. Dieses Lachen hatte er
seit ein paar Jahren, wenn in seiner Seele die
Vergangenheit, besser: die Jugend, zu reden be-
gann, und er mit dieser Rede nichts anzufangen
wußte. Sibylle hatte ihtr niemals mehr etwas
von sich hören lassen! Und er sie nicht! In dieser
Beziehung, auch in dieser, waren sie einander ver-
wandt: sie lebten sich, solange sie sich erlebten;
für Briefe und Entfernungen waren sie nicht die
Menschen!
Sie hatte wahrscheinlich geheiratet! Oder sich,
ebenso wie er, dem Leben überlassen! Jedenfalls
aber — das stand zu aller Sicherheit fest, — war
sie heute nicht mehr auf dem Berg da! Es war
der vierte November! —
Er stand auf und schritt weiter; gesenkten
Hauptes. Aber da geschah es, daß er plötzlich,
unversehens, die Augen aufschlug, mitten in den
ausgebreiteten Abend der Heimat hinein, — und
da wußte er's zum Erschauern deutlich: er war
gestern der großen Stadt und seinem Leben
davongelaufen, um dieser Heimat »ach sieben Jah-
ren eines hindernislosen Aufstiegs zu zeigen, was
für ein ausgeniachter Bettler er war! Was für
Paul Segieth (Bayr. Inf.-Regt.i
ein Zerrütteter, Heruntergekommener .... Rui-
nierter er war!
Er, Thomas Altweida! —
Der Abend, während Thomas weiterschritt,
fanh mählich tiefer. Er senkte sich auf ihn nie-
der. Er täuschte seine Müdigkeit. Er betäubte
seine Verzweiflung. Die blauen Bergzüge rund-
um, emporgehoben über die freigebig weite Deh-
nung von Alpe und Wald, um das vertraute
Handinhandstehen von Wiesen, vom Sommer ge-
dörrt und vom Herbste gebleicht, von Lärchen-
und Fichtenflecken, stumpfgolden und stumpfgrün,
von braunen stillen Ackern und täuschenden Winter-
saaten, . . . diese blauen Berge hatten die Gesichter
von Vater und Mutter! Nun bist du wieder da!
sagten sie, und nicht in ihren einzelnen Zügen,
obwohl gerade die denr Heimkehrenden umso inni-
ger in die Augen schauten, als sie sich vollkommen
gleich geblieben waren, erkannte der sie, sondern
mit einem einzigen schnellen Blick nur über die
Gesamtheit ihres Ausdrucks. Ja, sagte er und
strebte dem uralten Landhaus der Väter zu,
da bin ich wieder, und ich habe mitgebracht! Und
da, als er dies sagte, fiel plötzlich die Sonne eines
strahlenden Augusttags über die Landschaft, Weg
und Steg, Zaun und Banne brannten in heller
Freude, und Alles, was ihm begegnete, trug die
Mienen von Altbekannten, von Freunden, Ge-
schwistern und Geliebten, da bist du wieder! stieg
es aus jubelndem Chor, aus Bauerngesichtern,
aus dem des schneeweißen Pfarrers, des tauben
Lehrers, aus den Vatermördern des hinkenden
Landjunkers Hieronymus, aus süßen, rosigen Mäd-
chengestalten, und er schüttelte eine Menge Hüirde
und sagte: ja, da bin ich wieder, und ich habe
mitgebracht!
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„Du bist das Liebste, was ich habe," hatte
Sibylle zitternd erwidert, „und .... nur dich
nicht verlieren! Aber . . . ."
„Aber?"
Schmerzlich, grenzenlos schmerzlich: „Aber, . .
ich habe schon so oft geliebt, und . . jedesmal bin
ich untreu geworden, . . Thomas ..."
„Weißt du es voraus, daß du auch mir . ."
„Thomas . . . ." sie umschlang ihn mit der
ganzen Last ihrer Liebe, „Thomas, verstehe mich,
ich bitte dich . .!"
„Nein! Du liebst mich nicht!"
„Oh!" Wie ein Schrei! „Thomas, höre,
Thomas, denke, . ." sie hängte sich, nichts als
sein, an ihn, und hatte nicht mehr die Scham,
wahr zu sein und zugleich die Banguis ihres
zerrissenen Herzens zu zeigen, . . . „Thomas,
wenn wir, wir zwei, die sich über Alles
lieben, einmal, plötzlich, empfänden, daß wir an-
einander genug haben, . . . Thomas . . ."
Da hatte er sich frei gemacht. „Wenn ich offen
bin," sagte er mit zuckendem Munde, „denke ich
wie du! Obwohl ich anders denken möchte! —
Komm, Sibylle!" —
Er hatte sie, die noch nicht verstand, daß nun
der Abschied kommen müßte, mitgezogen, an den
See hinunter, und dort, unterm dämmernden
Himmel, während sie, bleichgeworden, zu verste-
hen begann und nicht mehr den Mut hatte, sich
zu wehren, oder zu lügen, ihr zum letztenmal die
Hand gereicht. —
Thomas lächelte. Sieben Jahre! Und strich
mit feiner, leiser Hand über die Rinde des Baums
und beugte sich tief auf den Boden nieder, um
auch ihn zu liebkosen, — sprang aber jäh wieder
aus, jagte sausend den Wald der Kuppe durch an
den See hinab, lief auf der Gegenüberseite eine
Viertelstunde lang steil ben gelben Birkenhügel
empor, bis er auf dem Scheideweg zwischen
Breitwang und Tannenfohl stand, atniete da tief
auf, und setzte sich müde auf einen Stein am
Wege nieder.
Als ob er deshalb, dieses Baumes halber,
gestern seinem wohlgezimmerten Leben in der
großen Stadt der Freuden davongelaufen wäre!!
Er, Thomas Altweida.
Er lachte. Häßlich. Dieses Lachen hatte er
seit ein paar Jahren, wenn in seiner Seele die
Vergangenheit, besser: die Jugend, zu reden be-
gann, und er mit dieser Rede nichts anzufangen
wußte. Sibylle hatte ihtr niemals mehr etwas
von sich hören lassen! Und er sie nicht! In dieser
Beziehung, auch in dieser, waren sie einander ver-
wandt: sie lebten sich, solange sie sich erlebten;
für Briefe und Entfernungen waren sie nicht die
Menschen!
Sie hatte wahrscheinlich geheiratet! Oder sich,
ebenso wie er, dem Leben überlassen! Jedenfalls
aber — das stand zu aller Sicherheit fest, — war
sie heute nicht mehr auf dem Berg da! Es war
der vierte November! —
Er stand auf und schritt weiter; gesenkten
Hauptes. Aber da geschah es, daß er plötzlich,
unversehens, die Augen aufschlug, mitten in den
ausgebreiteten Abend der Heimat hinein, — und
da wußte er's zum Erschauern deutlich: er war
gestern der großen Stadt und seinem Leben
davongelaufen, um dieser Heimat »ach sieben Jah-
ren eines hindernislosen Aufstiegs zu zeigen, was
für ein ausgeniachter Bettler er war! Was für
Paul Segieth (Bayr. Inf.-Regt.i
ein Zerrütteter, Heruntergekommener .... Rui-
nierter er war!
Er, Thomas Altweida! —
Der Abend, während Thomas weiterschritt,
fanh mählich tiefer. Er senkte sich auf ihn nie-
der. Er täuschte seine Müdigkeit. Er betäubte
seine Verzweiflung. Die blauen Bergzüge rund-
um, emporgehoben über die freigebig weite Deh-
nung von Alpe und Wald, um das vertraute
Handinhandstehen von Wiesen, vom Sommer ge-
dörrt und vom Herbste gebleicht, von Lärchen-
und Fichtenflecken, stumpfgolden und stumpfgrün,
von braunen stillen Ackern und täuschenden Winter-
saaten, . . . diese blauen Berge hatten die Gesichter
von Vater und Mutter! Nun bist du wieder da!
sagten sie, und nicht in ihren einzelnen Zügen,
obwohl gerade die denr Heimkehrenden umso inni-
ger in die Augen schauten, als sie sich vollkommen
gleich geblieben waren, erkannte der sie, sondern
mit einem einzigen schnellen Blick nur über die
Gesamtheit ihres Ausdrucks. Ja, sagte er und
strebte dem uralten Landhaus der Väter zu,
da bin ich wieder, und ich habe mitgebracht! Und
da, als er dies sagte, fiel plötzlich die Sonne eines
strahlenden Augusttags über die Landschaft, Weg
und Steg, Zaun und Banne brannten in heller
Freude, und Alles, was ihm begegnete, trug die
Mienen von Altbekannten, von Freunden, Ge-
schwistern und Geliebten, da bist du wieder! stieg
es aus jubelndem Chor, aus Bauerngesichtern,
aus dem des schneeweißen Pfarrers, des tauben
Lehrers, aus den Vatermördern des hinkenden
Landjunkers Hieronymus, aus süßen, rosigen Mäd-
chengestalten, und er schüttelte eine Menge Hüirde
und sagte: ja, da bin ich wieder, und ich habe
mitgebracht!
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