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Der <A6reißkaken-er

Bon Karl Sttlinger

„Nicht weinen! Nicht weinen, Mimi!" bat
Edgar, der Kleine Leutnant, dem selbst die
Tränen in den blauen Kinderaugen standen.
„Schau, Schnucki, das wußten wir ja, daß
wir uns eines Tages trennen müßten! Du
konntest alle Augenblicke an eine andere Bühne
engagiert werden, ich konnte täglich ins Feld
abgestellt werden, — das wußten wir doch,
Schnucki! Und jetzt ist eben der böse Augen-
blick gekommen, und — nicht weinen, Mimi!"

Der arme, kleine Leutnant stand völlig
ratlos vor der Brünette, die sich schluchzend
über das Sofa geworfen hatte.

„Ich werde Dich nie vergessen, Edgar! Ich
werde vor Sehnsucht sterben! Du wirst es eines
Tages in der Zeitung lesen — im Feuilleton —
oder unter Tagesneuigkeiten — oder unter „Hof
und Gesellschaft" : ,Gestern vergiftete sich die aus-
gezeichnete Naive unseres Stadttheaters. . . oder
erschoß sich ... oder erdolchte sich .. .‘"

„Ich werde von Deinen großen Erfolgen
lesen," versuchte Edgar abzalenken, „von den
Orden für Kunst und Wissenschaft, die Du kriegen
wirst, und ich werde manchmal Dein Bild in den
Zeitschriften sehen und denken: so also sieht jetzt
die Mimi aus, die Dich längst vergessen hat!
Und was ist aus mir geworden? . .. Irgend-
wo ein Massengrab — — in den Argonnen —
oder sonstwo . . ."

Minii trocknete sich mit dem Spitzentaschenluch
die Tränen und sah zu ihm auf. „Glaubst Du
wirklich, daß ich viele Orden kriegen werde?
Nun ja, unsere Salondame, die Stümperin, hat
ja auch einen, und ich habe doch zehn Mal mehr
Talent! Ich werde Dir nianchmal die Zeitung
schicken, wenn ich besonders gelobt werde, — wenn
ich überhaupt so lang lebe! Wenn ich nicht in-
zwischen an gekauten Streichholzköpfen — oder
einen, vergifteten Dolch . . . ." Sie warf sich
wieder über das Sofa und brach in doppelt herz-
erweichendes Schluchzen aus.

Der kleine Leutnant wußte gar nicht, was er
sagen sollte. Er fühlte: wenn er jetzt nicht energisch
Schluß machte, dann fing er selbst an zu weinen.
Und das durfte er nicht. Er hatte einmal als
Kadett in einem Buch gelesen, ein Mann dürfe
sich niemals vor einem Weibe schwach zeigen.
Und wenn das schon ein Mann nicht durfte,
um wieviel weniger durfte es ein Leutnant.

Er stotterte: „Ich habe Dir einen Ring zum
Andenken mitgebracht, Schnucki!"

„Einen Ring?" fuhr Mimi auf. „Zeig' mal!"
(Sie vergaß ganz ans Weinen.) „Oh, ein feiner
Ring! Tipp-topp! Der kostet mindestens — ich
wollte sagen: den nehme ich mit ins Wasser!
Und wenn sie mich begraben, muß er mit in
meinen Sarg! Ach, Edgar ....!"

„Und dann habe ich noch etwas für Dich:
einen Abreißkalender!"

„Einen Ab—reiß—ka—len—der?" schluckste
Minii.

„Ja, Schnucki!" Er setzte sich neben sie und
begann, stolz auf seinen kindlichen Einfall, zu
dozieren. „Schau, heute haben wir den ersten
Juli 1915. Wenn ich nachher fort bin, dann
hängst Du den Abreißkalender über Deinem Wasch-
tisch auf. Und jeden Morgen, wenn Du ein Blatt
abreißt, mußt Du dabei an mich denken. Ob
Du willst oder nicht. Jeden Morgen, vom ersten
Juli bis zuni einunddreißigsten Dezeniber. Länger
brauchst Du nicht! Ich bin schon glücklich, daß

Du ein halbes Jahr lang täglich wenigstens ein-
mal an mich denken mußt!"

„Immer denk' ich an Dich, immer! Jedes-
mal, wenn ich ein Blatt abreiße, werd' ich mir
sagen: der Kalender ist von Deinem Edi! Der Ka-
lender und der Ring. — Der Stein ist doch echt?"

Der kleine Leutnant küßte ihr gerührt die
Augen. „Ich weiß, daß Du mich nicht vergessen
kannst!" Und er dachte: „Ach, wen» ich doch
in irgend einer Schlacht fiele, oder wenn mir doch
jetzt beim Nachhausegehen ein Ziegelstein auf den
Kopf siele oder irgend ein anderer Tod passierte!
Was ist das Leben ohne Mimi!"

Der Verlust Eduards ging Mimi doch nahe.
Als ihre Zofe ani vierten Juli das Schlaf-
zinnner betrat, fand sie ihre Herrin jämmerlich
weinend vor dem Abreißkalender. Mimi hielt
das abgerissene Kalenderblatt in der Hand und
stöhnte: „Jetzt ist er schon draußen! OGott!...
Ich halt's nicht aus... ich werd' von der Bühne
gehen, ja, das werd' ich tun. und eine Stelle als
Ladenmädchen . . . oder als Schreibmaschinen-
fräulein . .. irgendwo auf dem Land. .."

„Aber, gnädiges Fräulein!"

„Wenn ich aber doch sonst sterbe?"

Sie nahm den Abreißkalender von der Wand,
drückte ihn leidenschaftlich an 's Herz, küßte ihn
glühend.

Dabei fiel ihr Blick zufällig in den Spiegel
und sie sagte sich: „Die Locke tiefer in die Stirne
müßte mir eigentlich ganz gut stehen!"

Dann hing sie den Kalender traurig wieder
an seinen Plag.

* * *

Amsechsundzwanzigsten Juli stand Mimi
mit einem Blaustift vor dem Abreißkalender.

„Ach, Eduard!" seufzte sie melancholisch. „Und

Schnucki hast Du mich immer genannt.

Schnucki! Und Deine lieben blauen Auge» . ..
oder waren sie braun?"

Sie blätterte bis zum ersten Dezember und
zeichnete auf dieses Kalenderblatt ein großes
blaues A.

Das bedeutete „Auslösen." Ani ersten De-
zember wollte sie den Ring wieder auslösen.
Eigentlich hatte es recht wenig dafür gegeben im
Pfandhaus. Mein Gott, ein Leutnant. . . .

Natürlich war es schade, daß sie den Ring
nicht mehr am Finger trug. Aber schließlich:
„Wozu einen Ring? Ich denke ja auch so täg-
lich an ihn, ich Hab' ja den Abreißkalender. Und
überhaupt."

Sie seufzte ihren tiefsten Bühnenseufzer.

Am siebzehnten August, während die
Zofe Anna sie frisierte, hielt Minii den Ab-
reißkalender in der Hand und las: „Dienstag,
den siebzehnten August. Heinrich Hirzel, ge-
boren 1766. Bundesverlrag der Schweizer
Kantone 1815. Friedrich der Große, gestorben
1786. Dem Herzen angeboren ist die Treue,
Robert Hamerling. Griessuppr mit Nockerln,
Kohlrabi mit Salzkartoffeln, Rouladen mit —"
„Richtig," sagte Mimi, „Rouladen haben
wir schon lange nicht niehr gehabt. Ich möchte
morgen wieder einmal Rouladen. Aber ohne
Sehnen! Vergessen Sie's nicht, Anna!"

„Anna!" rief Mimi am Morgen des
zweiten Septembers und streckte sich woh-
lig im Bett. „Anna, wissen Sie nicht mehr
Eduards Adresse? Ich Hab' sie verlegt und ich
möchte ihni so gern diese Kritik schicken. ,Eine
sehr begabte Anfängerin* steht drin. Wie war
doch gleich seine Adresse?"

„Ich weiß sie nicht mehr."

„Siebente Kompanie oder so ähnlich. Oder
neunzehnte. Mein Gott, es gibt jetzt so schreck-
lich viele Kompanieen! Oh, der Krieg.... Ich
komm' nicht drauf. Schade! Er hätte sich sicher
riesig gefreut. — 's ist gut, Anna!"

Die Zofe wandte sich zum Gehen.

„Anna!"

„Gnädiges Fräulein?"

„Den wievielten haben wir heute eigentlich?"
„Den zweiten September."

„So!! Und seit acht Tagen haben Sie den
Abreißkalender wieder nicht abgerissen! Vergeß-
liche Person!! An jede Kleinigkeit soll ich selbst
denken! — Und Rouladen Hab' ich auch nicht
gekriegt!"

„Es war fleischloser Tag, und —"
„Schweigen Sie!! 's ist rein zum Umbringen!
Ich kau' doch noch 'mal Streichhölzer.. .."

„Was hast Du nur für einen scheußlichen Ab-
reißkalender über Deinem Waschtisch!" rief am
zwölften Oktober der Heereslieferant Bau-
müller. Vor Kriegsausbruch war er ein schlichter
Dreiquartelprioatier gewesen; aber als dann der
Krieg kam — dieser schöne Krieg: Herr Bau-
müller hofft, daß er noch recht lairge dauert —,
da beteiligte sich der schlichte Dreiquartelprivatier
sehr erfolgreich mit seinem Bermögenchen an
Heereslieferungen.

„Wie kommt nur dieser geschmacklose Kalen-
der in Dein elegantes Boudoir?"

„Bitte sehr!" sagte Mimi beleidigt. „Dag ist
ein Andenken an meine Mutter! Sie ist im
Januar gestorben!"

Und sie begann zu weinen.

„Ich wollte Dich nicht kränken," stammelte
der Heereslieferant. „Nicht weinen, Schnacki!
Nicht weinen!"

„Nein, laß mich! Du bist so rücksichtslos!"
Und sie weinte noch heftiger. „Daß gerade Du
mich so verletzen mußt, — Du, den ich so liebe!"
Sie weinte ergreifend.

Oh, sie hatte seit dem dreißigsten Juni große
Fortschritte gemacht. Eduard würde wohl bald
in der Zeitung von den ersten Orden lesen! . ..
Oder hatte er Adolf geheißen? — Schade, daß
sie seine Briefe verbrannt hatte. Weil sie doch

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Register
Karl Ettlinger: Der Abreißkalender
Carl Schwalbach: Vignette
 
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