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ren. An der Stelle, wo die Fahrstraße ganz steil
hinaufgeht, steigen wir alle aus, wie sonst, und
gehen quer über eine Wiese zu Fuß.
Im dunkeln Gras liegen, wie herabgefallene
Sterne, weiße Blumen — Parnassien waren es.
Da sehe ich, wie Mama einige pflückt und sie
ihrem Vetter reicht. Und er — nimmt die wei-
hen Blütensterne — ohne Dank und ohne Lächeln
—, steckt sie inwendig in seine Rocktasche und geht
ernstem, dunkeln Gesicht weiter.
Mir wird bange in dieser Stille, die ich nicht
verstehe und doch so bedeutungsvoll empfinbe.
Dann ist die Bahnstation erreicht und Mama bleibt
traurig vor dem Eingang des kleinen Hauses steh'n.
„Bitte, kehrt jetzt heim," sagt Fritz und dann
nimmt er Mamas beide Hände, küßt sie nach-
einander und wendet sich, ohne umzuschau'n. Die
Tür des Bahnhofs fällt hinter ihm zu.
» * *
Wir fahren heim. Der Kutscher hat das halbe
Dach aufgeschlagen — es ist kühl und dunkel ge-
worden. 'Mama lehnt zurück — nub mit einem
Mal entdecke ich, daß sie weint, lange weint,
und mir ist, als läge ein ganzer Strom trennend
zwischen uns. Aber gerade da legt sie den eigenen
Mantel um mich, legt den Arm fest und warm
um meine Schultern, und den Kopf an sie ge-
lehnt, sühle ich in der alten Geborgenheit das
neue Gemeinsame, im Zartgeheimnisvollen. An
der Stelle aber, wo das Böglein uns über den
Weg geflogen war, frage ich mit etwas Kinder-
diplomatie:
„Hast Du einmal ein Böglein gehabt, Mann?"
„Ja — und wir haben es freigelassen — es
war ein lustiger kleiner Stieglitz "
633
Das Bad
Gegen Abend zieht mir das Fräulein den
Mantel an und sagt, ich dürfe mit Mama und
dem Onkel zur Bahn fahren.
Run steh ich wartend neben Mamas Aus-
fahrsachen: ihr grauer Wagenmantel liegt auf
dem Tisch, daneben ihre Handschuhe, der Hut
mit dem langen lichtgrauen Schleier und darauf
ein kleines Päckchen, welches halboffen steht, denn
sein Papier ist sehr dick und spröde. Es ist
unwiderstehlich und man muß hineinqucken. Da
liegt ein wunderhübsches farbiges Bild der lieben
Mann darin, mit einem Blumen-Kranz im
Haar. In meiner Freude trage ich es zum
Fenster, denn es dämmert, — unb dort lasse
ich es liegen, als Mama hastig kommt, mich
abzuholen.
Wir steigen in den Wagen mit dem fremden
Onkel, und ich sitze vorne wie sonst, wenn Papa
bei seinen seltenen Besuchen mit uns ausfährt.
Die lange Fahrt geht auf der Straße, die zur
Bahnstation führt. Zu beiden Seiten des Weges
dunkeln die Wälder ganz nahe. Es wird schon
lange nicht mehr gesprochen. Da fliegt auf ein-
mal ein Böglein hellzwitschernd uns über den
Weg. Beide ernsten Gesichter vor mir schau'n
auf unb lächeln leise.
„Weißt Du noch unser Böglein?" sagt Mama
und Fritz nickt.
Nach einer Pause sagt er:
„Weißt Du auch noch unsere -Sterne*?"
„Oh ja. — ich glaube manchmal, mail ist den
Sternen näher hier oben."
Wie Tropfen waren die Stimmen ins Schwei-
gen gefallen, dann wurde es wieder still und nur
das Klatschen der Hufe am weichen Straßenboden,
zuweilen ein Schnauben der Pferde war zu hö-
Adolf Münzer ^Düsseldorf)
632
ren. An der Stelle, wo die Fahrstraße ganz steil
hinaufgeht, steigen wir alle aus, wie sonst, und
gehen quer über eine Wiese zu Fuß.
Im dunkeln Gras liegen, wie herabgefallene
Sterne, weiße Blumen — Parnassien waren es.
Da sehe ich, wie Mama einige pflückt und sie
ihrem Vetter reicht. Und er — nimmt die wei-
hen Blütensterne — ohne Dank und ohne Lächeln
—, steckt sie inwendig in seine Rocktasche und geht
ernstem, dunkeln Gesicht weiter.
Mir wird bange in dieser Stille, die ich nicht
verstehe und doch so bedeutungsvoll empfinbe.
Dann ist die Bahnstation erreicht und Mama bleibt
traurig vor dem Eingang des kleinen Hauses steh'n.
„Bitte, kehrt jetzt heim," sagt Fritz und dann
nimmt er Mamas beide Hände, küßt sie nach-
einander und wendet sich, ohne umzuschau'n. Die
Tür des Bahnhofs fällt hinter ihm zu.
» * *
Wir fahren heim. Der Kutscher hat das halbe
Dach aufgeschlagen — es ist kühl und dunkel ge-
worden. 'Mama lehnt zurück — nub mit einem
Mal entdecke ich, daß sie weint, lange weint,
und mir ist, als läge ein ganzer Strom trennend
zwischen uns. Aber gerade da legt sie den eigenen
Mantel um mich, legt den Arm fest und warm
um meine Schultern, und den Kopf an sie ge-
lehnt, sühle ich in der alten Geborgenheit das
neue Gemeinsame, im Zartgeheimnisvollen. An
der Stelle aber, wo das Böglein uns über den
Weg geflogen war, frage ich mit etwas Kinder-
diplomatie:
„Hast Du einmal ein Böglein gehabt, Mann?"
„Ja — und wir haben es freigelassen — es
war ein lustiger kleiner Stieglitz "
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Das Bad
Gegen Abend zieht mir das Fräulein den
Mantel an und sagt, ich dürfe mit Mama und
dem Onkel zur Bahn fahren.
Run steh ich wartend neben Mamas Aus-
fahrsachen: ihr grauer Wagenmantel liegt auf
dem Tisch, daneben ihre Handschuhe, der Hut
mit dem langen lichtgrauen Schleier und darauf
ein kleines Päckchen, welches halboffen steht, denn
sein Papier ist sehr dick und spröde. Es ist
unwiderstehlich und man muß hineinqucken. Da
liegt ein wunderhübsches farbiges Bild der lieben
Mann darin, mit einem Blumen-Kranz im
Haar. In meiner Freude trage ich es zum
Fenster, denn es dämmert, — unb dort lasse
ich es liegen, als Mama hastig kommt, mich
abzuholen.
Wir steigen in den Wagen mit dem fremden
Onkel, und ich sitze vorne wie sonst, wenn Papa
bei seinen seltenen Besuchen mit uns ausfährt.
Die lange Fahrt geht auf der Straße, die zur
Bahnstation führt. Zu beiden Seiten des Weges
dunkeln die Wälder ganz nahe. Es wird schon
lange nicht mehr gesprochen. Da fliegt auf ein-
mal ein Böglein hellzwitschernd uns über den
Weg. Beide ernsten Gesichter vor mir schau'n
auf unb lächeln leise.
„Weißt Du noch unser Böglein?" sagt Mama
und Fritz nickt.
Nach einer Pause sagt er:
„Weißt Du auch noch unsere -Sterne*?"
„Oh ja. — ich glaube manchmal, mail ist den
Sternen näher hier oben."
Wie Tropfen waren die Stimmen ins Schwei-
gen gefallen, dann wurde es wieder still und nur
das Klatschen der Hufe am weichen Straßenboden,
zuweilen ein Schnauben der Pferde war zu hö-
Adolf Münzer ^Düsseldorf)
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