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3ur Naturgeschichte der englischen Frömmigkeit

Die englische Frömmigkeit ist uns schwer verständlich.

Manches erklärt immerhin eine Stelle der Financial News
vom 30. September v. I. Es heißt da über Lloyd Georges berühmte
Doxerrede:

„In seiner ganzen Laufbahn hat Lloyd George nach überein-
stimmender Ansicht der City nichts Schöneres geleistet. Er sagt, was
jeder denkt, aber er sagt es in Worten, die unser Blut wallen lassen ..
Das Geheimnis dieser Wirkung ist nicht weit zu suchen. Absichtlich
bediente er sich einer volkstümlichen statt einer literarischen Redeweise.
Geläufig sind ihni die Worte jener lebendigen und vertrauten Sprache,
die so leicht auf unsere Zunge kommt. Deshalb erregen uns seine
Aeußerungen wie das Wiederlesen einer alten biblischen Erzählung,
die wir vor langer Zeit an den Knieen einer verehrten Mutter hörten."

Ja, da versteht man die Liebe der Engländer zur Bibel auf eine
überraschend neue Weise. Wahrscheinlich hat's ihnen der Vers aus
dem 137. Psalm angetan: „Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt

und zerschmettert sie an dem Stein!"

Ani deutlichste» wird indessen die Natur ihrer Frömmigkeit aus
dem alten Fürstenspiegel des Landes, das ihrer Krone de» Kaiser-
"tel gab. Man muß wissen, daß bereits tausend Jahre vor Mac-
chiavellig „Fürsten" in Indien ein Fürstenspiegel geschrieben worden
ist, in welchem auch schon die Religion als politische Waffe eine

Rolle spielt.

In diesem Fürstenspiegel, Pantschatantra genannt, und zwar in
seinem ersten Buch, das von der „Verfeindung von Freunden" handelt,
befindet sich das berühmte Märchen vom „Weber als Wischnu":

Ein ehrsamer Weber hatte bei einem Tempelfest seiner Stadt
die Königstochter gesehen und sich dermahen in sie verliebt, daß er
heftig erkrankte. Er hatte aber einen Freund, der Zimmermann
war. Der machte ihm einen hölzernen Göttervogel oder Garuda, den
er durch eine verborgene Mechanik zum Fliegen bringen konnte,
und sagte: „So setze Dich nun in diesen Garuda. nimm dieses mit
Muschel, Scheibe, Keule und Lotus bewaffnete Paar Arme an Dich,
dah Du aussiehst wie der Gott Wischnu: so fliege oben m das
siebente Stockwerk des Königspalastes, da schläft die Prinzessin.

/cMiinR mif der folgenden Seite!

„Grausames Schicksal! Ich bin ein durch und durch ehr
liches Viech und Hab n Gesicht wie 'n Engländer!"
Register
Karl Franke: Zur Naturgeschichte der englischen Frömmigkeit
Otto Bromberger: Die unglückliche Robbe
 
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