Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Oer Knulch

Bon Horst Schüttler (Flugzeug-Obermatrose)

„Meine Herrschaften, es ist Punkt 12 Uhr,"
sagte die alte Exzellenz feierlich. Man erhob
sich und griff zu den Gläsern,

„Bei mir fehlen noch zwei Minuten," krähte
an> untern Ende des Tisches ein kleiner frecher
Leutnant, Die spindeldürre blonde Haupt-
mannsgaltin drohte vor Schreck umzusinken.
Der Adjutant, Oberleutnant Riehl, fing sie ge-
schickt auf. „Machen wir leicht," sagte er so
nebenher. Und zu dem Frechdachs gewandt:
„Schorsche, beninini dir! Sonst merkt nian,
daß an deiner Wiege — soweit es in diesem
erlauchten Kreise überhaupt erlaubt ist, von
Wiegen zu sprechen, — keine Exzellenzen oder
ihre Töchter Pate gestanden haben. Und bitte:
denk dir für 1917 einen neuen Witz aus: ja?

— Gnädige Frau, der Knabe Absnloni hat
nämlich im Schützengraben seine Uhr eingebüßt,
und seitdeni trompetet er unentwegt hinaus, bei
ihm fehlten noch zwei Minuten, Sehr witzig,
was? Im übrigen aber: Prosit Neujahr!"

Er fügte noch hinzu: „Lassen Sie sich's zuni
Schmerbauch gedeihen," — das konnte jedoch
schon dem langen Seeoffizier gelten.

Der Glüsermarsch hatte bereits begonnen. Die
Streber gingen zuerst zur alten Exzellenz, die
Wohlerzogenen zur Dame des Hauses, die Ver-
liebten zur schöneti Frau Hertha. Die Exzellenz
gab sich bald sauer, bald süß, die Hausfrau um-
armte die Damen und scherzte mit den Herren,
die schöne Frau Hertha stieß einfach mit jedem
und jeder an.

Sie lächelte, gleichviel ob man ihr sagte:
„Möge uns das neue Jahr den Frieden bringen,"
oder „Möge Ihnen 1917 den Gatten gesund zu-
rückgeben," Ihr Gesicht blieb ganz Gesellschaft,
und ihr Herz war ganz Alleinsein.

Ihr Herz sagte immerfort: Du mein lieber,
lieber Knulch du! Mein lieber, lieber Knulch du!
Und während sie lächelnd jedem ihr Glas zu-
neigte, hielt die Herzenshand ständig eine kleine
rote Steinträne innig umfaßt, die an einem feinen
Kettchen ihren Hals zierte.

Der Frechdachs schlug vor, jetzt genteinsam
„In der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe
erwacht" zu singen. Die Exzellenz mochte wohl
„Stille Nacht" verstanden haben und rief energisch
hinunter: „Bitte keine Sentimentalitäten, meine
Herrschaften," „O du ahnungsloser Engel!" hörte
man Oberleutnant Riehl deutlich sagen; er konnte
jedoch den errötenden Backfisch meinen, mit dem
er eben anstieß.

Man setzte sich wieder und plauderte im neuen
Jahre weiter. Niemand dachte daran, daß draußen
noch die Silvesterglocken läuteten.

Nur Frau Hertha hörte jeden Glockenschlag.
Und zu der Melodie, die aus reinen Höhen
erklang, sang ihr Herz: Mein lieber, lieber
Knulch du! Sie sah sein Gesicht und hörte die
Worte, mit denen er ihr ein recht glückliches
neues Jahr wünschen würde.

Wann kani er? Vielleicht schon niorgen.
Mit seinen strahlenden Auge». Und dann klagte
er nicht über diese Neujahrsnacht, die er in Sturm
und Kälte auf dem einsamen Borpostenboote zu-
gebracht halte, sondern er fand auch das noch
schön. So war er immer, ihr lieber Knulch!
Er würde höchstens sagen, daß er sich doch an
das Fernsein gewöhnen müsse, wenn.

„Ja, mein Mann steht in den Vogesen,"-

Gott sei Dank, sie hatte die Frage des dicken

Lazarettzug J. Würstl (im Felde)

Lazarettzug vor Thiaucourt

Linkshin der Cvtes Lorraines Höhenrücken,
Die schwarzen Ränder mondenlichtumflossen,
Und rechts ein Hügeldorf, das längst zerschossen.
Hoch ragt der Kirchturm ausdenMauerstücken.
Es hält der Räder eintönig Gebraus,

Wir schauen stumm in die Nacht hinaus:
Alles, was winterlang schlief,

Atmet erwachend nun selig tief;

Und vom Walde es klingt,

Lauter und süßer singt
Uber den Schienenwall
Weit eine Nachtigall. —

Da plötzlich drei, vier Lichter flackern, irren
Vom Dorf zur Eisenbahn, die jüngst errichtet,
Bei Nacht von Pionieren aufgeschichtet,

Und auf der Rampe halblaut

Stimmen schwirren:
Sie tragen herein ihn, bleich, wie im Schlaf,
Den gestern drüben die Kugel traf. —
Drunten im Wiesental
Duften die Blumen zum erstenmal;

Und vom Walde es klingt,

Lauter und süßer singt
Uber den Schienenwall
Weit eine Nachtigall. —

Ein Sausen, Krachen. — Hoch der Berg

in Blitzen, —

Ein Einundzwanziger hat eingeschlagen.

Roch zitternd bebt der dunkle Krankenwagen,
Als heftig widerdonnern die Haubitzen. -
Die Räder nehmen rückwärts ihren Lauf;
Die Kranken sind erwacht und stöhnen auf. —
Schmeichelnder Morgenwind
Flieht am Zuge vorbei geschwind;

Uud vom Walde es klingt,

Lauter und süßer singt
Uber den Schienenwall
Weit eine Nachtigall. — W»,,gang pctz«.

Majors nicht überhört. Für die nächste halbe
Stunde widmete er sich hoffentlich nur seiner
stillen Liebe, deni sauren Mosel!

Der Knulch, wen» morgen die Vorposten-
boote einliefen, dann kam der Knulch und
nahm gern ein Glas Rheinwein. Nur ein
Glas, aber das trank er mit Andacht und
Genuß. Und er mußte sich's selber einschänken,
denn sie sah zu gern, wenn seine Hand die

Kristallkaraffe so zart_

„Aber sicher, natürlich: die liebe alte Dame
dort oben ist meine Mama," bestätigte sie der
fremden jungen Frau, „Nur wenn niein Mann
Urlaub hat, wohne ich in unserer süddeutschen
Garnison,"

Der Knulch besaß eine Art, seine Hand ..,.
„O, doch: hier fühle ich mich immer wohl;
ich liebe die See! Das ist allerdings Ge-
schmackssache,"

Dummheit, sie immer so in ihren Ge-
danken zu stören! ., ,,

Ja, seine Hände mochte sie besonders gern
leiden. Auch wenn sie gebräunt und rot waren.
Seele blieb doch allzeit darin. Und dann mußte
sie immer an sein Lieblingswort denken: mit
reinen Händen. Wenn er das so langsam sagte,
dann bekam man Sehnsucht, ihn zu streicheln.
Aber dann machte er schnell eine Faust und redete

überstürzt, nur um.nun ja: „Mit reinen

Händen I" .... er blieb sich immer treu.

„Streichhölzer? Nein, ich hmnstere überhaupt
nicht. Eine Offizierssrau muß ihre Ehre darein
setzen, lieber sparen und entbehren zu können,
als solchen Rummel mitzuniachen!"

Da hatten sie's: nun ließen sie ihr hoffentlich
Ruhe zum Träumen! Ein wenig peinlich war
ihr die Frage aber doch gewesen, denn sicher hätte
sie auch schon manches gehamstert gehabt, wenn
nicht der Knulch .... O du mein lieber, liebster
Knulch du! Alles Gute, das in diesen Jahren
in ihr groß geworden war, trug den Stempel
ihres Verkehrs mit ihm.

Sie begann zu rechnen. 1914,-ja, länger

als zwei Jahre kannte sie nun schon de» Knulch.
Anfang Dezember hatte sie ihn zum erstenmal in
der Marine-Lesehalle gesehen. Nein: gesehen
hatte sie ihn nicht; denn sie hatte stolz wie eine
Fürstin an dem einsanien Borstandstischchen ge-
thront. Erst als alle gegangen waren, da war
er plötzlich hinzugetreten und hatte ihr beim Auf-
räumen geholfen.

Sie errötete. Sie entsann sich genau, daß sie
ihn wie eine Art Ordonnanz oder Bürodiener
behandelt hatte. So ganz von oben herab. Viel
zu spät, erst beim Zuschließen der Türe hatte sie
benicrkt, daß er eigentlich sehr anständig aussah.
Da hatte sie ihm zum Dank für seine Gefälligkeit
die Hand zum Abschied gegeben, lind er hatte
ihr wie selbstverständlich die Hand geküßt.

Die Hand geküßt I Ein Knulch, der wie selbst-
verständlich einer Dame die Hand küßte!

Und, sie,-- sie war so ungezogen gewesen

und hatte schleunigst mit deni Arme! über die
Hand gewischt. Heimlich, aber er hatte es gewiß
doch gesehen; er sah ja stets alles. Und dann
fühlte er sein Knulchtum hart, auch wenn er lächelte.

O, wie töricht war sie doch in dieser ersten Zeit
gewesen! Ihr süßes Geheimnis von dem hand-
küffenden Knulche hatte sie überall preisgegeben,
hatte allen Leuten von ihm erzählt und sogar den
geschickten Riehl auf die Fährte gehetzt!

Denn: ja, sie halte ihn durchaus miedersehen
wollen. Sie hatte schon damals oft von ihm
geträumt. Und es war kränkend für sie gewesen,
daß er die Lesehalle mied. Eie glaubte nicht

182
Register
Johann Wuerstl: Lazarettzug
Wolfgang Petzet: Lazarettzug vor Thiaucourt
Horst Schöttler: Der Knulch
 
Annotationen