Oie Stunde des Erkennens
Don Hans Friedrich
Fred Marten hatte einem empfänglichen Kreise
von Kunstfreunden eine seiner stillen, vornehmen
Novellen vorgelesen. Sie handelte nicht vom
Kriege, aber eben deshalb wirkte diese einfache
Geschichte zweier Menschen, die zueinander finden,
vielleicht um so stärker. Bon dem rauh bewegten
Hintergrund einer alle Fibern anspannenden Zeit
hob sich das erdichtete Glück nur noch schärfer ab
und weckte sehnsüchtige Erinnerungen an schon
ferne friedliche Jahre.
„Sie müssen das in einer sehr zufriedenen
Stunde geschrieben haben," sagte der Herr des
Hauses, Hofrat Pahl.
„Im Gegenteil — ich war vielleicht nie un-
glücklicher als an jenem Tag."
„Ach?"
„Sie ist nur aus dem Wunsch heraus so ge-
schrieben."
„Das kann ich sehr wohl verstehen, daß man
aus seinen Wünschen heraus sich eine ganze
Welt baut."
Mara Giese hatte gesprochen.
Ihre Worte klangen, scheinbar nebensächlich,
im Wirbel der anderen mit, die sich viel mehr
Mühe gaben, aufzufallen. Sie waren gar nicht
für Fred Marten bestimmt. Aber dennoch trafen
sie ihn mit seltsam vertrautem Klang.
Er horchte auf und lauschte so angestrengt,
daß er von all den übrigen Reden für Sekunden
nichts mehr vernahm und unter den lebhaften
Menschen wie in einem leeren, schweigenden
Raume sah. Aber vergebens. Die Stimme tauchte
nicht wieder auf. Und er hätte sie doch so gern
gehört, denn es war ihm, als habe jemand im
fremden Land in seiner Nähe die lang entbehrte
Sprache der Heimat gesprochen.
Da gab Mara Giese auf eine Frage Antwort.
Nun wußte er wenigstens, aus welchem Mund
die Worte gekommen waren. Er besann sich.
Er kannte diese schlanke, dunkle Frau kaum
dem Namen nach. Er sah sie heute zum ersten-
mal, obwohl er ziemlich oft bei Hofrat Pahl ver-
kehrte. Ehe er zu lesen begonnen hatte, war sie
ihm nicht weiter ausgefallen
Er beobachtete sie unaufdringlich eine Weile.
Sie sprach nicht viel. Die Lider ihrer großen,
braunen Augen senkten sich oft wie ein Borhatig.
Ihre Wangen waren blaß, aber ihr Mund lockte,
als habe er Freude am Leben und sehne sich nach
lange versagten Stunden der Liebe.
Das schwarze Trauerkleid gab der schlanken,
noch säst mädchenhaften Gestalt etwas Unnah-
bares. Und doch fühlte Marten, daß seine Blicke
den Weg z» ihr fanden.
Und auch Mara Giese empfand in diesem
Augenblick, daß sie beobachtet wurde, so unauf-
fällig es auch geschah. Bielleicht war es ihr des-
balb nicht wie sonst unangenehm. Nur ein leises
Rot färbte ihre blassen Wangen
Wie alt mochte sie sein? fragte sich Fred.
Eicher noch nicht dreißig.
Dann wurde er von den anderen wieder ganz
in Anspruch genommen Er konnte nur ein paar
flüchtige Worte mit ihr wechseln. Aber es war
ihm seltsam zu Mut .... als ob ein heimliches
Band zwischen ihr und ihm sich knüpfe oder wo-
möglich schon geknüpft wäre, ehe sie selbst es
wußten und ohne daß sie dabei handelten.
Eine stille Verwunderung ergriff von ihm
immer stärker Besitz, so daß er sich zusammen-
nehmen mußte, uni im Ge-
spräch keine zerstre uten Ant-
worten zu geben.
Aber es war nicht allein
Verwunderung, sondern zu-
gleich die Ahnung eines sehr
schönen, friedvollen Erleb-
nisses, das kommen wollte.
* *
-I-
Die Uhren hatten eben
die Mitternachtsstunde ge-
schlagen. Es war eine kalte,
klare Winternacht, die um
die elektrischen Bogenlam-
pen keinen noch so duftigen Nebelschleier duldete.
Auf allen kleinen Pfützen der Straßen fror eine
feine Eishaut. Und die Sterne schimmerten fern
und frostig.
Fred und Mara gingen nach Hause. Sie war
früher als die anderen aufgebrochen und er hatte
sich ihr angeschlossen. Man wußte, er blieb nie
bis zuletzt, er war kein Nachtvogel. Daruni fiel
es auch nicht weiter auf, daß er die günstige Ge-
legenheit benutzt hatte.
Die beiden sprachen über allerlei. . . über den
Krieg . . . Mara erzählte, ihr Mann sei im ersten
Jahre in Rußland gefallen . . . nur sieben Monate
seien sie verheiratet gewesen.. .
Und nun sei sie wieder so einsam wie zuvor ...
Jedes ihrer Worte war wie ein Kranz, in Liebe
gewunden, den sie auf das ferne Grab des Toten
niederlegte.
Und Fred erzählte auch... von der Schwierig-
keit, jetzt mit der Kunst zu leben, der Härte des
täglichen Kampfes ... und wie ihn die laute Zeit
oft am Arbeiten hindere . . . und wie das, was
jetzt als Samen dieser Jahre in eines Dichters
Seele fiele, nur langsam reifen könne . ..
Und daß er auch einsam wäre . . .
Er sprach sonst zu keinem viel von diesen in-
nerlichen Dingen, denn er hatte mit den Menschen
zu schlechte Erfahrungen gemacht. Eine Frau,
die er sehr lieble, war ihm untreu geworden.
Freunde hatten ihn im Stich gelassen, als er zum
ersten Mal ihrer Hilfe bedurft hätte. Aber es
zwang ihn ein dunkles Gefühl, sich Mara zu
öffnen ... als müsse auch er sich vor ihr auf-
schließen, so wie sie es getan hatte.
Es war das heimliche Band, das er bereits
vorhin im Kreise der fremden Menschen empfunden
hatte. Doch jetzt gewann ein anderes Gefühl vor
seinen Augen Form und Farbe. Wie in einem
Bilde sah er sich und Mara unter der dunklen
Wölbung eines säulengetragenen Torbogens stehen
und hinausblicken in ein Land, das ihrer beider
Ziel und Sehnsucht schien , ..
Sie waren vor dem Hause Maras ange-
kommen.
„So ruhig miteinander zu sprechen," sagte sie,
„ist doch viel mehr wert, als die großen Gesell-
schaften, Da wirrt doch bloß alles durcheinander."
„Aber zu wie vielen kann man so sprechen!"
„Vielleicht können wir es auch einmal bei
Tage."
„Gern. Wenn Sie Zeit für mich haben."
„O, ich habe viel Zeit."
Sie bestimmten einen der nächsten Nachmittage.
Beim Abschied küßte Fred Mara die Hand.
Er hielt sie einen Augenblick länger als nötig.
Und es durchzuckte ihn, daß er sie wahrscheinlich
noch öfter halten würde
Dann schloß sich die Türe . ..
Raschen Schrittes ging Fred durch die frieren-
den Straßen.
In ihm fror kein Winter. Auch die Not stand
nicht mehr so nahe. Es gab etwas, das aus
diesen Kampfjahren Vergangenheit machen wollte.
Oder träumte er nur?
War dies das Leben oder nur eine Dichtung,
die er vorempfand, um sie nachschaffen zu können?
Er riß sich energisch zusammen.
Es war Leben.
Eine Blüte des Glücks, von dem er in seiner
Novelle geschrieben hatte, öffnete eine scheue
Knospe.. . wie an einer Schutthalde im rauhen
Bergfrühling, so erschien ihm dieser erste Gruß
nach den Monaten schlimmen Kanipfes, die seine
Seele in winterliches Eis gebunden hatten.
Jetzt aber sang der Föhn.
Und das würde von nun ab wieder Leben
sein ....
Die Fenster waren dick vereist, aber der grüne
Kachelofen in Maras Wohnzimmer spendete eine
wohlige Wärme. Ein feiner Duft von Tee, Rum
und Gebäck schuf Behaglichkeit und ließ alle Sehn-
sucht sehr fern erscheinen.
Die erste Dämmerung fiel.
Fred'Marten hatte seinen Sessel ein wenig
näher zu dem Diwan gerückt, auf dem Mara saß.
Sie trug heute keine so tiefe Trauer, und um
ihren Hals hing an einer schmalen, goldenen Kette
ein blauer Stein, als habe sich dort ein Stück
schimmernden Sommerhimmels gefangen.
Fred sprach von dem Torbogen, unter dem
sie ständen und gemeinsam ins Land hinaussähen.
„Sie können wohl recht haben," bestätigte
Mara „Ich empfinde fast das gleiche."
Sie halte zu diesem Bekenntnis innerlich erst
einen Anlauf nehmen müssen, als wolle sie einen
Graben überspringen. Dann aber ging es leichter,
wie sie dachte. Es gab keine Hemmung niehr.
„Das setzt mich nicht einmal in Erstaunen,"
erwiderte Fred, ein wenig zögernd, als würde
in ihm dabei etwas klar. „Trotzdem es doch
eigentlich zum Erstaunen ist."
„O ia Mir ist es seltsam genug. Denn seit
meines Mannes Tode sind mir alle Menschen so
fern und fremd gewesen. Selbst meine Verwandten,
zu denen ich sonst nicht schlecht stehe."
„Und erschreckt es Sie?"
„Erschrecken. . . nein . . ."
„Ich finde, es birgt eine wundervolle Süße."
„Vielleicht . . ."
„Mara . . ."
Ihre Hände fanden zueinander.
Ein Schweigen füllte das Zimmer, als sei es
mit der Dämnierung eins. Aber die beiden Men-
schen empfanden es nicht als slumnie Stille, so
voll war es für sie von Erlebnissen und unaus-
gesprochenen Dingen.
Dann begann Fred:
„Es ist sehr schwer, Worte dafür zu finden.
Und es drängt doch nach Worten. . . Vielleicht
haben sich unsere Seelen schon einmal gekannt. ."
„Die alten indischen Weisen mögen doch nicht
so unrecht gehabt haben . . ."
„Es ist, als ob alles andere zurückgewichen
wäre. Und nur diese Stunde ist da . .. . die
Stunde des Erkennens..."
„Und wir beide. . ."
„Lassen sie nicht vorübergleiten, ohne mit
offenen Augen zu sehen ... weil sie uns voni
Schicksal gesandt ist .. . Wir werden ein solches
Geschenk nicht mißachten, Mara!"
„Nein, denn es ist reich und schön. Und ich
glaube nicht, daß ich einen Toten damit unrecht
tue."
„Sicher nicht I"
Sie waren beide aufgestanden. Ihre Hände
ruhten fest ineinander.
„Wir dürfen aus dem Leben keinen Kirchhof
machen," mahnte er.
„Mir wäre es fast einer geworden "
„Und wenn auch der Tod jetzt mächtig ist,
wir niüffen das neue Land bauen, das uns vom
Schicksal versprochen wurde."
„ . . . vom Schicksal versprochen wurde,"
wiederholte Mara leise und senkte de» Kopf wie
unter einem Segen.
Sacht strich Fred ihr übers Haar.
Da schwand alles Fremde.
„So vertraut bist Du nur
gewesen von, ersten Augen-
blick an, da ich Deine Stini-
me hörte."
Ihre Lippen ruhten auf-
einander wie nach Trennung
. . . ohne Glück ... in dem
sicheren Gefühl des Wieder-
sindens ...
Tiefer sank die Däm-
merung.
„Ich will alle Einsamkeit
von Dir nehmen," versprach
Fred weich.
408
Don Hans Friedrich
Fred Marten hatte einem empfänglichen Kreise
von Kunstfreunden eine seiner stillen, vornehmen
Novellen vorgelesen. Sie handelte nicht vom
Kriege, aber eben deshalb wirkte diese einfache
Geschichte zweier Menschen, die zueinander finden,
vielleicht um so stärker. Bon dem rauh bewegten
Hintergrund einer alle Fibern anspannenden Zeit
hob sich das erdichtete Glück nur noch schärfer ab
und weckte sehnsüchtige Erinnerungen an schon
ferne friedliche Jahre.
„Sie müssen das in einer sehr zufriedenen
Stunde geschrieben haben," sagte der Herr des
Hauses, Hofrat Pahl.
„Im Gegenteil — ich war vielleicht nie un-
glücklicher als an jenem Tag."
„Ach?"
„Sie ist nur aus dem Wunsch heraus so ge-
schrieben."
„Das kann ich sehr wohl verstehen, daß man
aus seinen Wünschen heraus sich eine ganze
Welt baut."
Mara Giese hatte gesprochen.
Ihre Worte klangen, scheinbar nebensächlich,
im Wirbel der anderen mit, die sich viel mehr
Mühe gaben, aufzufallen. Sie waren gar nicht
für Fred Marten bestimmt. Aber dennoch trafen
sie ihn mit seltsam vertrautem Klang.
Er horchte auf und lauschte so angestrengt,
daß er von all den übrigen Reden für Sekunden
nichts mehr vernahm und unter den lebhaften
Menschen wie in einem leeren, schweigenden
Raume sah. Aber vergebens. Die Stimme tauchte
nicht wieder auf. Und er hätte sie doch so gern
gehört, denn es war ihm, als habe jemand im
fremden Land in seiner Nähe die lang entbehrte
Sprache der Heimat gesprochen.
Da gab Mara Giese auf eine Frage Antwort.
Nun wußte er wenigstens, aus welchem Mund
die Worte gekommen waren. Er besann sich.
Er kannte diese schlanke, dunkle Frau kaum
dem Namen nach. Er sah sie heute zum ersten-
mal, obwohl er ziemlich oft bei Hofrat Pahl ver-
kehrte. Ehe er zu lesen begonnen hatte, war sie
ihm nicht weiter ausgefallen
Er beobachtete sie unaufdringlich eine Weile.
Sie sprach nicht viel. Die Lider ihrer großen,
braunen Augen senkten sich oft wie ein Borhatig.
Ihre Wangen waren blaß, aber ihr Mund lockte,
als habe er Freude am Leben und sehne sich nach
lange versagten Stunden der Liebe.
Das schwarze Trauerkleid gab der schlanken,
noch säst mädchenhaften Gestalt etwas Unnah-
bares. Und doch fühlte Marten, daß seine Blicke
den Weg z» ihr fanden.
Und auch Mara Giese empfand in diesem
Augenblick, daß sie beobachtet wurde, so unauf-
fällig es auch geschah. Bielleicht war es ihr des-
balb nicht wie sonst unangenehm. Nur ein leises
Rot färbte ihre blassen Wangen
Wie alt mochte sie sein? fragte sich Fred.
Eicher noch nicht dreißig.
Dann wurde er von den anderen wieder ganz
in Anspruch genommen Er konnte nur ein paar
flüchtige Worte mit ihr wechseln. Aber es war
ihm seltsam zu Mut .... als ob ein heimliches
Band zwischen ihr und ihm sich knüpfe oder wo-
möglich schon geknüpft wäre, ehe sie selbst es
wußten und ohne daß sie dabei handelten.
Eine stille Verwunderung ergriff von ihm
immer stärker Besitz, so daß er sich zusammen-
nehmen mußte, uni im Ge-
spräch keine zerstre uten Ant-
worten zu geben.
Aber es war nicht allein
Verwunderung, sondern zu-
gleich die Ahnung eines sehr
schönen, friedvollen Erleb-
nisses, das kommen wollte.
* *
-I-
Die Uhren hatten eben
die Mitternachtsstunde ge-
schlagen. Es war eine kalte,
klare Winternacht, die um
die elektrischen Bogenlam-
pen keinen noch so duftigen Nebelschleier duldete.
Auf allen kleinen Pfützen der Straßen fror eine
feine Eishaut. Und die Sterne schimmerten fern
und frostig.
Fred und Mara gingen nach Hause. Sie war
früher als die anderen aufgebrochen und er hatte
sich ihr angeschlossen. Man wußte, er blieb nie
bis zuletzt, er war kein Nachtvogel. Daruni fiel
es auch nicht weiter auf, daß er die günstige Ge-
legenheit benutzt hatte.
Die beiden sprachen über allerlei. . . über den
Krieg . . . Mara erzählte, ihr Mann sei im ersten
Jahre in Rußland gefallen . . . nur sieben Monate
seien sie verheiratet gewesen.. .
Und nun sei sie wieder so einsam wie zuvor ...
Jedes ihrer Worte war wie ein Kranz, in Liebe
gewunden, den sie auf das ferne Grab des Toten
niederlegte.
Und Fred erzählte auch... von der Schwierig-
keit, jetzt mit der Kunst zu leben, der Härte des
täglichen Kampfes ... und wie ihn die laute Zeit
oft am Arbeiten hindere . . . und wie das, was
jetzt als Samen dieser Jahre in eines Dichters
Seele fiele, nur langsam reifen könne . ..
Und daß er auch einsam wäre . . .
Er sprach sonst zu keinem viel von diesen in-
nerlichen Dingen, denn er hatte mit den Menschen
zu schlechte Erfahrungen gemacht. Eine Frau,
die er sehr lieble, war ihm untreu geworden.
Freunde hatten ihn im Stich gelassen, als er zum
ersten Mal ihrer Hilfe bedurft hätte. Aber es
zwang ihn ein dunkles Gefühl, sich Mara zu
öffnen ... als müsse auch er sich vor ihr auf-
schließen, so wie sie es getan hatte.
Es war das heimliche Band, das er bereits
vorhin im Kreise der fremden Menschen empfunden
hatte. Doch jetzt gewann ein anderes Gefühl vor
seinen Augen Form und Farbe. Wie in einem
Bilde sah er sich und Mara unter der dunklen
Wölbung eines säulengetragenen Torbogens stehen
und hinausblicken in ein Land, das ihrer beider
Ziel und Sehnsucht schien , ..
Sie waren vor dem Hause Maras ange-
kommen.
„So ruhig miteinander zu sprechen," sagte sie,
„ist doch viel mehr wert, als die großen Gesell-
schaften, Da wirrt doch bloß alles durcheinander."
„Aber zu wie vielen kann man so sprechen!"
„Vielleicht können wir es auch einmal bei
Tage."
„Gern. Wenn Sie Zeit für mich haben."
„O, ich habe viel Zeit."
Sie bestimmten einen der nächsten Nachmittage.
Beim Abschied küßte Fred Mara die Hand.
Er hielt sie einen Augenblick länger als nötig.
Und es durchzuckte ihn, daß er sie wahrscheinlich
noch öfter halten würde
Dann schloß sich die Türe . ..
Raschen Schrittes ging Fred durch die frieren-
den Straßen.
In ihm fror kein Winter. Auch die Not stand
nicht mehr so nahe. Es gab etwas, das aus
diesen Kampfjahren Vergangenheit machen wollte.
Oder träumte er nur?
War dies das Leben oder nur eine Dichtung,
die er vorempfand, um sie nachschaffen zu können?
Er riß sich energisch zusammen.
Es war Leben.
Eine Blüte des Glücks, von dem er in seiner
Novelle geschrieben hatte, öffnete eine scheue
Knospe.. . wie an einer Schutthalde im rauhen
Bergfrühling, so erschien ihm dieser erste Gruß
nach den Monaten schlimmen Kanipfes, die seine
Seele in winterliches Eis gebunden hatten.
Jetzt aber sang der Föhn.
Und das würde von nun ab wieder Leben
sein ....
Die Fenster waren dick vereist, aber der grüne
Kachelofen in Maras Wohnzimmer spendete eine
wohlige Wärme. Ein feiner Duft von Tee, Rum
und Gebäck schuf Behaglichkeit und ließ alle Sehn-
sucht sehr fern erscheinen.
Die erste Dämmerung fiel.
Fred'Marten hatte seinen Sessel ein wenig
näher zu dem Diwan gerückt, auf dem Mara saß.
Sie trug heute keine so tiefe Trauer, und um
ihren Hals hing an einer schmalen, goldenen Kette
ein blauer Stein, als habe sich dort ein Stück
schimmernden Sommerhimmels gefangen.
Fred sprach von dem Torbogen, unter dem
sie ständen und gemeinsam ins Land hinaussähen.
„Sie können wohl recht haben," bestätigte
Mara „Ich empfinde fast das gleiche."
Sie halte zu diesem Bekenntnis innerlich erst
einen Anlauf nehmen müssen, als wolle sie einen
Graben überspringen. Dann aber ging es leichter,
wie sie dachte. Es gab keine Hemmung niehr.
„Das setzt mich nicht einmal in Erstaunen,"
erwiderte Fred, ein wenig zögernd, als würde
in ihm dabei etwas klar. „Trotzdem es doch
eigentlich zum Erstaunen ist."
„O ia Mir ist es seltsam genug. Denn seit
meines Mannes Tode sind mir alle Menschen so
fern und fremd gewesen. Selbst meine Verwandten,
zu denen ich sonst nicht schlecht stehe."
„Und erschreckt es Sie?"
„Erschrecken. . . nein . . ."
„Ich finde, es birgt eine wundervolle Süße."
„Vielleicht . . ."
„Mara . . ."
Ihre Hände fanden zueinander.
Ein Schweigen füllte das Zimmer, als sei es
mit der Dämnierung eins. Aber die beiden Men-
schen empfanden es nicht als slumnie Stille, so
voll war es für sie von Erlebnissen und unaus-
gesprochenen Dingen.
Dann begann Fred:
„Es ist sehr schwer, Worte dafür zu finden.
Und es drängt doch nach Worten. . . Vielleicht
haben sich unsere Seelen schon einmal gekannt. ."
„Die alten indischen Weisen mögen doch nicht
so unrecht gehabt haben . . ."
„Es ist, als ob alles andere zurückgewichen
wäre. Und nur diese Stunde ist da . .. . die
Stunde des Erkennens..."
„Und wir beide. . ."
„Lassen sie nicht vorübergleiten, ohne mit
offenen Augen zu sehen ... weil sie uns voni
Schicksal gesandt ist .. . Wir werden ein solches
Geschenk nicht mißachten, Mara!"
„Nein, denn es ist reich und schön. Und ich
glaube nicht, daß ich einen Toten damit unrecht
tue."
„Sicher nicht I"
Sie waren beide aufgestanden. Ihre Hände
ruhten fest ineinander.
„Wir dürfen aus dem Leben keinen Kirchhof
machen," mahnte er.
„Mir wäre es fast einer geworden "
„Und wenn auch der Tod jetzt mächtig ist,
wir niüffen das neue Land bauen, das uns vom
Schicksal versprochen wurde."
„ . . . vom Schicksal versprochen wurde,"
wiederholte Mara leise und senkte de» Kopf wie
unter einem Segen.
Sacht strich Fred ihr übers Haar.
Da schwand alles Fremde.
„So vertraut bist Du nur
gewesen von, ersten Augen-
blick an, da ich Deine Stini-
me hörte."
Ihre Lippen ruhten auf-
einander wie nach Trennung
. . . ohne Glück ... in dem
sicheren Gefühl des Wieder-
sindens ...
Tiefer sank die Däm-
merung.
„Ich will alle Einsamkeit
von Dir nehmen," versprach
Fred weich.
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