dann legte ich die Leiter, welche ich niilgebracht
hatte, an das Fenster und stieg siegessicher empor.
Das Fenster war nur angelehnt, eine tropi che
Sommernacht blaute über Garmisch. Die Zug-
spitze glänzie wie eine Meerschaumpfeife, aus der
leichter Nebel aufstieg. „Marianderl," rief ich
leise. „Mei Bua," tönte es gurrend zurück, und
zärtlich lagen wir uns in den Armen und Haaren.
Die Nacht verging zu fdjnell in Glück und Lust
der Liebenden. Aurora malte schon die Wolken
mit leisem Türkischrot, dahinter erschien Preußisch-
blau (in Bayern) der Morgenhimmel.
„Pfüat Di Good. mei Bua," wispelt tränen-
überströmt das Marianderl. „Gib fei Obacht,
daß Di da Bata nöt dawischt."
Kaum hatte sie dies gesprochen, so stand der
Angerufene schon vor uns. Wir wurden grau
und gelb vor Angst, das Marianderl und ich.
Was glauben Sie (aber Sie glauben cs nicht):
Der Alte hatte die ganze Nacht nüt uns im Zimmer
verbracht, uni uns in flagranti post festum ab-
zufassen. Ich war wehrws. W. s sollte id) tun?
Das griffeste M sser hatte ich bei meiner bayrischen
Ausstattung vergessen. Er packte mich und das
Marianderl je in eine Faust, schleppte uns halb
angezogen, wie wir waren, auf seinen sonst der
Mistabfuhr dietienden Wagen uird fuhr utis aufs
Standesamt Partenkirchen. Was soll id) Ihnen
sagen: Ich mußte noch denselben Tag das Ma-
rianderl beiraten. Drei Wochen später genas sie
gesunder Zwillinge. Was sagen Sie dazu? Kaufen
Sie sich niemals ein echt oberbayrisches Gebirgs-
kostüm. Bleibeti Sie lieber in Preußen und gehet!
Sie auf den Kreuzberg und in ben Grunewald.
Auch fcnsterln Sie in der Friedrichstraße. Das
ist bedeutend ungefährlicher.
*
Aphorismen
Bon Paul Garin
Die Kinder lernen das Sprechen nicht
durch Denken, sondern das Denken durch
Sprechen. Die Völker auch, durch das
Sprechen mit Kanonen.
*
Jeder Mensch hat nur einen Mahstab
für d e Dinge dieser Welt in sich, nämlich —
sich. Drum sind die besten Menschen auch
die schlechtesten Menschenkenner.
*
Ein Schatten kann je nach dem Stand-
punkt des Beschauers aussehen wie der
eines Löwen und wie der eines Esels.
Was den Schatten wirft, braucht weder
ein Löwe noch ein Esel zu sein. Daß wir
keinen Standpunkt haben, daß wir alles
nach Schallen beurteilen, ist das Elend.
*
Das Wort ist nur das Schmieröl in
dem Getriebe dieser Welt, keine Kraft. die
das Getriebe bewegt. Die Urkraft ist stumm.
*
Genie ist der Mensch, für den es keine
Lust gibt, die ihn nicht größer macht.
*
Ob Deine Tat bös oder gut,
Bleibt Dir verborgen bis zum jüngsten
Tag.
Ob Lohn, ob Straf' auf ihrem Grunde ruht,
Kein Sterblicher ergründen mag.
Ein bißchen Ruh' bleibt Dir allein.
„Zn der Heimat, in der Heimat...
Es war schon spät nachts, als ich ankam.
Klein Jutta war längst im Bettchen, und nun
stand ich vor ihr, wie Gläubige vor einem Wun-
der stehen mögen. Der Lichtstrahl, der durch den
Türspalt ins dunkle Kinderzimmer fiel, traf ge-
rade ihr Gesichichen.
Und so fest hatte ich mir vorgenommen, die
Kleine nicht zu wecken, sie nicht herauszureißen
aus ihrem iüßen Kinderschlummer. Aber wie von
einem Magnet wurden meine Finger erst zu den
mutwilligen Ringelhaaren gezogen, dann strichen
sie über die Bäckchen — — na, und schließlich
durste ich ja auch als Vater einer dreijährigen
Tochter nicht dulden, daß so ein großes Kind noch
mit dem Däumchen im Mund sä)lief, und da zog
id) ihr ganz sacht das Händchen von dem Engels-
Köpfchen fort.
Da strahlten auf einmal zwei Lichter auf und
löschten wieder für einen Augenblick, dann blin-
zelten sie ein wenig, wurden groß und größer,
und dann jubelte es in hellem Kinderjubel: Der
Vater ist kommen, der Vater ist kommen! Und
dann quirlten und wusselten Beinchen, Arme, Kis-
sen. Decken im Übermut durcheinander, und als
alles ein richtiger Gulasch war, fanden sich all-
mählich die zusammengehörenden Glieder wieder
zusammen und krabbelten mir auf den Arm. Zwei
weiche Aermchen umschlangen meinen Nacken.
(Wir haben draußen ja ganz vergessen, wie weich
so ein paar Kinderarme sind!) Und ein schlaf-
rotes Bäckchen schmiegte sich an meine unrasierte
Wange.
Dann fing das Plappermäulcheir an: „Vater,
hasch jetz immer Urlaub? — Is kein Krieg
mehr? — Bleibfch jetz beim Kind?" Zwischen-
durch wurde ich mit den neuesten Literatur-Er-
scheinungen vertraut gemacht: Rotkäppchen, Dorn-
röschen, Schneewittchen.... Dann hieß cs wie-
der: „Vater, hasch em Kaiser jetz qschriewe, daß
kein Krieg mehr sein soll?" — „Knid, da kann
kein Kaiser und kein König und kein Schutz-
mann dran was machen!" — „Aber doch der
liebe (Sott! !??!>“ — „Wer weiß —??!!"
— „Sag's ein doch e Mal! Die Mutter und ich,
wir habbe's em schon ) o oft gesagt!-"
Das Däumchen war dem Mund wieder be-
denklich nahe gekommen. — „Nm — nm — nm..."
„„Aber Kindl So groß und noch Daumen lut-
schen!"" — „Wenn's doch müd isl!" — —
„Vater, mein Beltcheu is jetz immer trocken —
um — nm — nm — und wenn ich als brav bin,
krieg ich als e Ei — nm — nni — nm — aber
's koscht jetz pfllnipf — unpfirzig Pfennig. Nm
— nnt — —" Da waren die Lichter wieder
aus. Ich stand lang und staunte.
„Ist unser Kind so recht?", fragte eine liebe
Stimme. Und meine Küsse baten um Verzeihung,
daß ich vor dem Kinderwunder das Wunder der
Mutter vergessen hatte. Und wieder hingen zwei
weiche Arme an meinem Hals. Und das Blut
sang die wundersame, süß-wehe Weise der Sehn'
sucht, die so alt ist wie dieser Erdball, der heute
vom Waffenlürm widerhnllt, und noch viel älter..•
Bfdw. Walter Iensen
*
Oie Zigarre
Von Kurt Schwebke
Ich besitze eine ZigarrenPltze. Sie ist 227« am
lang und hat am Ende einen kleinen Kopf. Eine
Zigarre, die dahineingesteckt wird, steht demgemäß
senkrecht.
Wenn ich auf meinem Ruhesopha liege, halte
ich die Hände über der Brust zusammen und
richte die beiden Daumen in die Höhe, so daß
sie eine haltbare Stütze bilden für das Rohr der
Zigarrenspitze. Bor mir steht der altdeutsche Ofen
mit grünlichen, gebauchten Kacheln. Ich visiere
mit der Zigarre die linke Längskante einer Kachel.
Sie ist genau so lang wie die Zigarre. Visiere
ich nach rechts, so täuscht mir die Entfernung
dasselbe Ergebnis vor.
Die Menschen haben starke Neigung, alle
Dinge mit ihrem Leben in Beziehung zu bringen
und sie zu versinnbildlichen. Sä>iller hat ln der
Glocke ein unmittelbar wirkendes Bild aus dein
wechselvollen Menschenleben gegeben. Loewe hat
in seiner Ballade, die Uhr, eine Parallele zwischen
Leben und Uhrwerk gezogen. Wenn ich. wie
jeder verraten wird, meine Zigarre außer zu stereo-
melischen Versuchen noch zu lebensphilosophischen
Betrachlungen mißbrauchen will, so muß ich be-
denken, daß eine brennende Zigarre nur von
kurzer Dauer ist und daher nicht der Gegenstand
erschöpfender bildlicher Darstellung sein kann.
Allmählich wird der Aschenkegel giößer. Er
gibt genau die Umrisse der Vergangenheit wieder.
Aber vorsichtig! Nicht rühren, sonst stürzt das
leichte Gebilde zusammen wie eine zerstiebende
Erinnerung. Regelmäßige Züge lassen die Ränder
sanft erglühen. Der Atem des Rauches ist die
belebend: Kraft, die Schicksalsgewalt, unier deren
Ansporn das Leben einen Weg beschreitet, sich
betät gl und wirkt, aber auch allmählich verzehrt
wird. Durch das lange Rohr wallt der Dampf
zum Munde des Rauchers. Wie dieser auf der
Zunge die Abstufungen der Güte und Stärke
prüft, ebenso sind die Schicksalsgewalten und Hüter
des irdischen Lebens innig mit ihn! verbunden
und können prüfen und richten.
Wird alles seinen natürlichen Lauf nehmen?
Gibt es keine Tragödien und Zwischenfälle im
Zigarrenleben? O, leider jal Ich bemerke eine»
schwarzen Punkt unterhalb der Breunstelle. Er
vergrößert sich schnell. Jetzt bricht die Glut
einer verhaltenen Leidenschaft durch. Unter
starker Rauchentwicklung ist ein Teil des Deck-
blattes vor der Zeit abgebrannt. Ein unver-
sehrter Bogen wölbt sich über den Abgrund
glühender Leidenschaft. Hier ist ein chirurgi-
scher Eingriff geboten. Nachdem die Störung
beseitigt ist, die durch schnelles Rauchen oder
durch anhaltende Schicksalsschläge hervorgc-
rufen worden war, glüht es wieder anheimelnd
an den Rändern und leuchtet durch den zarte»
Asclienkegel der Erinnerung, wie ein fröhliches
Gedenken der Vergangenheit. Plötzlich fällt
der Aschenkegel aus die Decke. Ich schüttele ihn
ab. Heller brennt jetzt die Glut. Vielleicht
war die Erinnerung nicht so freudig. Es mochte
gut sein, daß der Rest, nicht durch sie beschwert,
einem besseren Eirde entgegenbrennen konnte.
Ja, das Ende komnit. Die Zigarre ist ganz
in der Spitze verichwunden. Es hat sich wie-
der ein bedeutend kleinerer Kegel als vorher
gebildet. Mit jedem Zug wird er durchleuch-
tet wie der heilige Gral. Die Erinnerung ist
nicht inehr der frühesten Vergangenheit meid)'
tig, aber d >s Letzte, das Ergebnis des Gan-
zen erhält sie bis zum Verlöschen.
hatte, an das Fenster und stieg siegessicher empor.
Das Fenster war nur angelehnt, eine tropi che
Sommernacht blaute über Garmisch. Die Zug-
spitze glänzie wie eine Meerschaumpfeife, aus der
leichter Nebel aufstieg. „Marianderl," rief ich
leise. „Mei Bua," tönte es gurrend zurück, und
zärtlich lagen wir uns in den Armen und Haaren.
Die Nacht verging zu fdjnell in Glück und Lust
der Liebenden. Aurora malte schon die Wolken
mit leisem Türkischrot, dahinter erschien Preußisch-
blau (in Bayern) der Morgenhimmel.
„Pfüat Di Good. mei Bua," wispelt tränen-
überströmt das Marianderl. „Gib fei Obacht,
daß Di da Bata nöt dawischt."
Kaum hatte sie dies gesprochen, so stand der
Angerufene schon vor uns. Wir wurden grau
und gelb vor Angst, das Marianderl und ich.
Was glauben Sie (aber Sie glauben cs nicht):
Der Alte hatte die ganze Nacht nüt uns im Zimmer
verbracht, uni uns in flagranti post festum ab-
zufassen. Ich war wehrws. W. s sollte id) tun?
Das griffeste M sser hatte ich bei meiner bayrischen
Ausstattung vergessen. Er packte mich und das
Marianderl je in eine Faust, schleppte uns halb
angezogen, wie wir waren, auf seinen sonst der
Mistabfuhr dietienden Wagen uird fuhr utis aufs
Standesamt Partenkirchen. Was soll id) Ihnen
sagen: Ich mußte noch denselben Tag das Ma-
rianderl beiraten. Drei Wochen später genas sie
gesunder Zwillinge. Was sagen Sie dazu? Kaufen
Sie sich niemals ein echt oberbayrisches Gebirgs-
kostüm. Bleibeti Sie lieber in Preußen und gehet!
Sie auf den Kreuzberg und in ben Grunewald.
Auch fcnsterln Sie in der Friedrichstraße. Das
ist bedeutend ungefährlicher.
*
Aphorismen
Bon Paul Garin
Die Kinder lernen das Sprechen nicht
durch Denken, sondern das Denken durch
Sprechen. Die Völker auch, durch das
Sprechen mit Kanonen.
*
Jeder Mensch hat nur einen Mahstab
für d e Dinge dieser Welt in sich, nämlich —
sich. Drum sind die besten Menschen auch
die schlechtesten Menschenkenner.
*
Ein Schatten kann je nach dem Stand-
punkt des Beschauers aussehen wie der
eines Löwen und wie der eines Esels.
Was den Schatten wirft, braucht weder
ein Löwe noch ein Esel zu sein. Daß wir
keinen Standpunkt haben, daß wir alles
nach Schallen beurteilen, ist das Elend.
*
Das Wort ist nur das Schmieröl in
dem Getriebe dieser Welt, keine Kraft. die
das Getriebe bewegt. Die Urkraft ist stumm.
*
Genie ist der Mensch, für den es keine
Lust gibt, die ihn nicht größer macht.
*
Ob Deine Tat bös oder gut,
Bleibt Dir verborgen bis zum jüngsten
Tag.
Ob Lohn, ob Straf' auf ihrem Grunde ruht,
Kein Sterblicher ergründen mag.
Ein bißchen Ruh' bleibt Dir allein.
„Zn der Heimat, in der Heimat...
Es war schon spät nachts, als ich ankam.
Klein Jutta war längst im Bettchen, und nun
stand ich vor ihr, wie Gläubige vor einem Wun-
der stehen mögen. Der Lichtstrahl, der durch den
Türspalt ins dunkle Kinderzimmer fiel, traf ge-
rade ihr Gesichichen.
Und so fest hatte ich mir vorgenommen, die
Kleine nicht zu wecken, sie nicht herauszureißen
aus ihrem iüßen Kinderschlummer. Aber wie von
einem Magnet wurden meine Finger erst zu den
mutwilligen Ringelhaaren gezogen, dann strichen
sie über die Bäckchen — — na, und schließlich
durste ich ja auch als Vater einer dreijährigen
Tochter nicht dulden, daß so ein großes Kind noch
mit dem Däumchen im Mund sä)lief, und da zog
id) ihr ganz sacht das Händchen von dem Engels-
Köpfchen fort.
Da strahlten auf einmal zwei Lichter auf und
löschten wieder für einen Augenblick, dann blin-
zelten sie ein wenig, wurden groß und größer,
und dann jubelte es in hellem Kinderjubel: Der
Vater ist kommen, der Vater ist kommen! Und
dann quirlten und wusselten Beinchen, Arme, Kis-
sen. Decken im Übermut durcheinander, und als
alles ein richtiger Gulasch war, fanden sich all-
mählich die zusammengehörenden Glieder wieder
zusammen und krabbelten mir auf den Arm. Zwei
weiche Aermchen umschlangen meinen Nacken.
(Wir haben draußen ja ganz vergessen, wie weich
so ein paar Kinderarme sind!) Und ein schlaf-
rotes Bäckchen schmiegte sich an meine unrasierte
Wange.
Dann fing das Plappermäulcheir an: „Vater,
hasch jetz immer Urlaub? — Is kein Krieg
mehr? — Bleibfch jetz beim Kind?" Zwischen-
durch wurde ich mit den neuesten Literatur-Er-
scheinungen vertraut gemacht: Rotkäppchen, Dorn-
röschen, Schneewittchen.... Dann hieß cs wie-
der: „Vater, hasch em Kaiser jetz qschriewe, daß
kein Krieg mehr sein soll?" — „Knid, da kann
kein Kaiser und kein König und kein Schutz-
mann dran was machen!" — „Aber doch der
liebe (Sott! !??!>“ — „Wer weiß —??!!"
— „Sag's ein doch e Mal! Die Mutter und ich,
wir habbe's em schon ) o oft gesagt!-"
Das Däumchen war dem Mund wieder be-
denklich nahe gekommen. — „Nm — nm — nm..."
„„Aber Kindl So groß und noch Daumen lut-
schen!"" — „Wenn's doch müd isl!" — —
„Vater, mein Beltcheu is jetz immer trocken —
um — nm — nm — und wenn ich als brav bin,
krieg ich als e Ei — nm — nni — nm — aber
's koscht jetz pfllnipf — unpfirzig Pfennig. Nm
— nnt — —" Da waren die Lichter wieder
aus. Ich stand lang und staunte.
„Ist unser Kind so recht?", fragte eine liebe
Stimme. Und meine Küsse baten um Verzeihung,
daß ich vor dem Kinderwunder das Wunder der
Mutter vergessen hatte. Und wieder hingen zwei
weiche Arme an meinem Hals. Und das Blut
sang die wundersame, süß-wehe Weise der Sehn'
sucht, die so alt ist wie dieser Erdball, der heute
vom Waffenlürm widerhnllt, und noch viel älter..•
Bfdw. Walter Iensen
*
Oie Zigarre
Von Kurt Schwebke
Ich besitze eine ZigarrenPltze. Sie ist 227« am
lang und hat am Ende einen kleinen Kopf. Eine
Zigarre, die dahineingesteckt wird, steht demgemäß
senkrecht.
Wenn ich auf meinem Ruhesopha liege, halte
ich die Hände über der Brust zusammen und
richte die beiden Daumen in die Höhe, so daß
sie eine haltbare Stütze bilden für das Rohr der
Zigarrenspitze. Bor mir steht der altdeutsche Ofen
mit grünlichen, gebauchten Kacheln. Ich visiere
mit der Zigarre die linke Längskante einer Kachel.
Sie ist genau so lang wie die Zigarre. Visiere
ich nach rechts, so täuscht mir die Entfernung
dasselbe Ergebnis vor.
Die Menschen haben starke Neigung, alle
Dinge mit ihrem Leben in Beziehung zu bringen
und sie zu versinnbildlichen. Sä>iller hat ln der
Glocke ein unmittelbar wirkendes Bild aus dein
wechselvollen Menschenleben gegeben. Loewe hat
in seiner Ballade, die Uhr, eine Parallele zwischen
Leben und Uhrwerk gezogen. Wenn ich. wie
jeder verraten wird, meine Zigarre außer zu stereo-
melischen Versuchen noch zu lebensphilosophischen
Betrachlungen mißbrauchen will, so muß ich be-
denken, daß eine brennende Zigarre nur von
kurzer Dauer ist und daher nicht der Gegenstand
erschöpfender bildlicher Darstellung sein kann.
Allmählich wird der Aschenkegel giößer. Er
gibt genau die Umrisse der Vergangenheit wieder.
Aber vorsichtig! Nicht rühren, sonst stürzt das
leichte Gebilde zusammen wie eine zerstiebende
Erinnerung. Regelmäßige Züge lassen die Ränder
sanft erglühen. Der Atem des Rauches ist die
belebend: Kraft, die Schicksalsgewalt, unier deren
Ansporn das Leben einen Weg beschreitet, sich
betät gl und wirkt, aber auch allmählich verzehrt
wird. Durch das lange Rohr wallt der Dampf
zum Munde des Rauchers. Wie dieser auf der
Zunge die Abstufungen der Güte und Stärke
prüft, ebenso sind die Schicksalsgewalten und Hüter
des irdischen Lebens innig mit ihn! verbunden
und können prüfen und richten.
Wird alles seinen natürlichen Lauf nehmen?
Gibt es keine Tragödien und Zwischenfälle im
Zigarrenleben? O, leider jal Ich bemerke eine»
schwarzen Punkt unterhalb der Breunstelle. Er
vergrößert sich schnell. Jetzt bricht die Glut
einer verhaltenen Leidenschaft durch. Unter
starker Rauchentwicklung ist ein Teil des Deck-
blattes vor der Zeit abgebrannt. Ein unver-
sehrter Bogen wölbt sich über den Abgrund
glühender Leidenschaft. Hier ist ein chirurgi-
scher Eingriff geboten. Nachdem die Störung
beseitigt ist, die durch schnelles Rauchen oder
durch anhaltende Schicksalsschläge hervorgc-
rufen worden war, glüht es wieder anheimelnd
an den Rändern und leuchtet durch den zarte»
Asclienkegel der Erinnerung, wie ein fröhliches
Gedenken der Vergangenheit. Plötzlich fällt
der Aschenkegel aus die Decke. Ich schüttele ihn
ab. Heller brennt jetzt die Glut. Vielleicht
war die Erinnerung nicht so freudig. Es mochte
gut sein, daß der Rest, nicht durch sie beschwert,
einem besseren Eirde entgegenbrennen konnte.
Ja, das Ende komnit. Die Zigarre ist ganz
in der Spitze verichwunden. Es hat sich wie-
der ein bedeutend kleinerer Kegel als vorher
gebildet. Mit jedem Zug wird er durchleuch-
tet wie der heilige Gral. Die Erinnerung ist
nicht inehr der frühesten Vergangenheit meid)'
tig, aber d >s Letzte, das Ergebnis des Gan-
zen erhält sie bis zum Verlöschen.