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In Franken

Die Fabel von der Brennessel

Ein Edelpilz, ein Waldmeister und eine Maiblume besprachen
eines schönen Morgens die gegenwärtigen Zeitläufte. „Mit der
Brennessel ist es fürwahr nicht mehr auszuhalten," meinte der Pilz;
„früher die Bescheidenheit selber, trügt sie jetzt ihren Kopf so hoch,
als ob sie aus einer der ersten Familien des Waldes stamme."
„Ja," sagte der Waldmeister, „seit sie zur Herstellung von Spinat,
Gemüsepudding und gar als Ersatz von Baumwolle so gesucht ist,
ist ihr der Kamm mächtig geschwollen. Um mich zu genießen, braucht
man allerdings Wein, und den können sich die meisten Menschen
bei den wahnsinnigen Preisen ja nicht mehr leisten. Bon dem
fehlenden Zucker gar nicht zu reden." „Mir geht es nicht besser,"
sagte der Pilz, „wenn ich nicht mit Butter ordentlich zubereitet werde,
schmecke ich nur halb so gut. Und wer hat heutzutage noch Butter?"
„Und an mir gehen die Leute schon ganz vorbei," klagte die Mai-
blume, „die Zeiten seien zu ernst, um sich mit Blumen zu schmücken,
sagen sie. Höchstens für Totenkränze nimmt man unser einen noch."
„Za, ja," riefen alle drei aus, „die Zeiten sind schlecht." Die
Brennessel halte das Gespräch gehört und rief nun höhnisch: „Mit
Eurer Herrlichkeit ist's aus. Zetzt kommt endlich der zur Geltung,
der wirklichen Wert hat. Ihr mit Eurem Talmiwert habt ausge-
wirtschaftet." „Ganz recht so! So hat's kommen müssen," pflichtete
ihr ihr Mann bei und warf sich mächtig in die Brust, „es gibt noch
eine Gerechtigkeit auf Erden!" Die drei anderen hörten's bekümmerten
Herzens und — schwiegen.

Da kamen zwei Kinder durch den Wald gegangen; und wie sie
der Brennesseln ansichtig wurden, sprangen sie mit dem Freudenruf:
„Ha, Brennesseln!" auf diese zu und fingen an, sie fein säuberlich
zu pflücken und in einen Korb zu legen. — Und hatten beim un-
gestümen Springen Pilz, Waldmeister und Maiblume zertreten. Mit
den Worten: „Die Poesie ist dahin, nur der starre Materialismus
hat noch sin Recht," hauchte der Waldmeister seine Seele aus.
„Ich sterbe in der frohen Hoffnung, daß unsere Nachkommen wieder
die alten schönen Zeiten sehen." „Das sei mein Trost," flüsterte noch
im Todeskampf die liebliche Maiblume. Der Pilz aber legte sich
trotzig auf die Seite, und während das Leben seinem fleischigen Leib
entfloh, murrte er mit einem letzleir geringschätzigen Blick auf die
Brennessel: „Kriegsgewinnler l"

P l c u s

Jul. Carben (München)
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Julius Carben: In Franken
Picus: Die Fabel von der Brennessel
 
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