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Reiche Fracht

Ferdinand Staeger (München)

Der erste Sonnenstrahl

2m Morgengrau, bevor die Sonne naht,
Betret ich meinen Garten:

Die dunkeln Rosen schwimmen noch im Bad
Der Juni-Nacht; sie träumen und sie warten,
Noch ganz umfangen von den feuchten

Schatten.

Sie warten auf den ersten Sonnenstrahl
Wie junge Frauen auf den Kuß des Gatten,
Leis hin und hergeweht im Morgenwind,
Gewiegt von Lächeln oder Seufzern iurd.

Und sieh, mit einem Mal
Kommt er heraufgcflogen:

Ein Blitz ob Berg und Tal
Und heißes Dünstewogen;

Sein Nahn verkünden goldene Wolkensäume.
Und Flammenbäume stehn wie wache Träume,
Da hat er schon die Decke wcggczogen
Von all den dunklen Rosen und sic funkeln
Stillachend ihm entgegen, zittern, beben
Bor der Berührung, hauchen Düfte, Leben,
Öffnen die Kelche seiner Himmelswonne,
Dehnen sich, lispeln, stammeln: „Sonne,

Sonne!"

Und was der Tag auch brächte an Beschwerde:
Sie stehen stolz und sicher auf der Erde.

Ludwig Scharf

*

Drei Gedanken

Bon Margarete Sachse
Reinheit

An einem Familientagc gingen Photo-
graphien von Hand zu Hand. Die acht-
zehnjährige Tochter des Hauses fand ein
Bildchen, das sie selbst darstellle. Es war
ohne ihr Wissen gemacht worden, als sie,
im Badetrikot, mit ausgebreitelcn Armen
am Wasser stand.

Unwillkürlich schlug sie die Hände zu-
sammen und rief in naiver Freude: „Wie
reizend!"

Gleichzeitig erhob sich entrüstetes Staunen
und Flüstern um sie her, und die saure
Stimme einer alten Tante wurde laut: „Wie
kann man nur so himmlisch verliebt in sich
sein!"

Dem jungen Mädchen war es, als flöße
ihr Eis ans Herz. Sie wich bis an die
Flügeltüre zurück und griff wie schutzsuchend
hinter sich in die Borhangfallen. Aber
Niemand kam, ihre Beschämung liebreich
zu verstehen.

Da fühlte sie leise eine Berührung an
der Hand, wie einen zitternden Kuß, und
erschrak; das tat ihre alte, feine, als ein
wenig prüde bekannte Großmama.

Schönheit

Fünf starke Männer zogen, keuchend
und schweißbedeckt, schwere Taue um Brust
und Schultern gewunden, am Flußufer
entlang. Sie krochen, gebückt und stumpf
vor sich hinstarrend, weiter, und fühlte»
verzweifelt, daß die Last, die an den Stricken
hing, doch zu schwer war für ihre fünf-
fache Kraft.

Da »rächte der Fluß eine Biegung, und
das geschleppte Schiff kam in Sicht

Es war ein winzig kleines, zartes, wei-
ßes Boot. Darin stand lächelnd eine wunder-
schöne Frau.

Eitelkeit

Ein Weib und ein Mann standen zu-
sammen vor dem Altar der Liebe, auf dem
rein und hell die heilige Flamme brannte.

Er dachte berauscht: „Wie schön sie ist!
Sie wird mein Haus schmücken!" Sie
dachte berechnend: „Wie reich werde ich
sein! Alle werden mich beneiden!"

Eindringlich und warm tönte die Stimme
des Priesters. Er sprach von der tiefen
innigen Gemeinschaft der Liebe, die allein

die ernste Verantwortung der Ehe tragen
könnte. Während er sprach, war es, als
wehte ein kalter Wind seinen Worten enl-
gegen, der die Flamme auf dem Elitär un-
ruhig flackern und schillern machte.

Und als er die Hände zunt Segen er-
hob. fühlte er das warme Sausen des Feuers
nicht mehr, nur trockenes Knistern und
Rascheln. Schrcckeiterstarrt sah er, daß die
Liebesflamme erloschen war. Aus der wei-
ßen Marmorschale wuchsen buntschillernde
Pfauenfedern empor.

Da verhüllte der Priester sein Haupt.
Er sah nicht mehr, wie das junge Paar
unbeirrt, triumphierend hinausschritt.

*

Geh' nicht in die Schenke,
Kathinka

Ukrainisches Volkslied

Geh' md)t in die Schenke, Kathinka,
Geh' nicht, o Mädchen!

Viel zu fein duftet Dein braunes Haar,
Viel zu hell leuchtet Dein Augenpaar,

Viel zu rot blüht Dein Nosenmund
Und Deiner Wange» liebliches Rnnd.

Geh' nicht in die Schenke, Kathinka,
Geh' nicht, o Mädchen!

Und wie das Reh im dunklen Wald,
Schwebt Deines Leibes Wohlgestalt,

Und wie die Rose sich wölbt am Strauch,
Also wölbt sid) Dein Busen and).

Geh' nid)t in die Schenke, Kathinka,
Geh' nid)t, o Mädchen!

Süß wie die Kehle der Nachtigall,

Klingt Deiner Stimme sanfter Schall,

Und Deine Seele so hold und rein.

Der ganze Himmel spiegelt sich drein.

Geh' nicht in die Schenke, Kathinka,
Geh' nid)t, o Mädchen.

Paul Garin

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Paul Garin: Geh nicht in die Schenke, Kathinka
 
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