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liche, verzwickte Sache werden kann.
Er ist ja als Engel vertraglich ver-
pflichtet, gut, sogar engelsgut zu sein.
Er kann im Bedarfsfälle Wünsche
erfüllen. Alles schön und gut, aber
das soeben Gehörte macht doch einen
gewaltigen Strich durch. — — Die
Kälte abstellcn — geht nidjt; aus
technischen Gründen. — Außerdem ist
es zu spät, denn schon fegt der Nord-
wind die Blüten rmd den Staub gegen
die nackten Waden des Kindes. Die
Thermometer sinken und bald kommt
der Schnee nach.

Da vergißt der arme Engel ganz
auf seine Bila, setzt sich im Tiergarten
auf eine Bank und bricht in Tränen
aus, denn er war ja kein richtig-
gehender Schutzengel, sondern nur ein
Schutzengel-Ersatz.

Acht Tage später (der Schnee lag
schon) las man neben langen Erklä-
rungen der Meteorologen für den plötz-
lichen Wettersturz, folgende Notiz im
Tagblatt: „Die Angeklagte bei der,
wie erinnerlich, der kürzlich verschwun-
dene kostbare Pelz von Frau I)r Zöllner
gefunden wurde, sagte bei dem Verhör
aus, ein blitzblauer Engel mit Wellen-
fittichflügeln und einem Puppenkopf
hätte ihr den Pelz gebracht. Sonst
wüßte sie nichts und dabei blieb sie.

Den Gerichtsärzten war es natür-
lich ein Leichtes, festzustellen, daß trotz
nervöser Überreizung und erblicher
Belastung eine Anwendung des 51
wegen geistiger Unzurechnungsfähig-
keit nicht in Frage käme."

.ff F. Itubna

Hans Schoellliorn

Liebe Zugend

tTCü meinen elfjährigen Schülerin-
nen besprecheich ein Lesestück, betitelt:

„Das Leber im Hafen von Konstantinopel." Die
reiche Pracht orientalischer Stoffe entfaltet sich vor
bei Kindern, im Geiste atmen sie den Duft einer
Fülle von Gewürzen, die vom Grient kommend,
aus dem Wege zum Abendland den Bosporus
passieren. Unter anderen orientalischen Produkten
ist auch das Räucherwerk genannt.

Um zu sehen, ob dn Kinder mit dem Worte
einer Begriff verbinden (dieses nahm ich bei-
nahe als sicher an, da sie kurz vorher in der
Rcligionsstunde von den Gaben gehört hatten,
die die weisen dem Lhristuskrnde darbringen),
frageich: „wer kann mir Räucherwerk nennen?"

„Schinken," lautete die prompte Antwort

Onkel Vinzenz und die Mischpoche

Von

Heinz Scharpf

Zn jeder Familie kommen kleine Häkchen vor>
die man beizeiten krümmen muß, ehe sie die lieben
Angehörigen zu häkeln beginnen.

Mit Onkel Vinzenz hatte es gleich bei feiner
Geburt einen Haken gehabt, er kam väterlicher-
seits als Waisenkind auf die Welt und wurde
mütterlicherseits irgendwo im Riescngebirge aus-
gesetzt und großgcsäugt.

Mit sechzehn Zähren hatte er wie ein Schneider
in der Lederbranche zu schustern angefangen und
dank seines unermüdlichen Fleißes zeichnete er
bereits mit vierundzwanzig per procura in einem
der größten Exporthäuser Deutschlands. Zm Ge-
schäfte war er ein Mann von echtem Schrott und
Kern, im Privatleben ein bißchen zu vierschrötig
und zu kernweich.

Anerkennung

Sakra, Sakra, die dcrfet scho «mal zum Hamster» kommen!"

Was aber macht nun ein Zunggeselle mit
seinem vielen Gelde? Er läßt es sich entweder
in leichtsinniger Gesellschaft abknöpfen, oder er
verraucht, vertrinkt oder verspielt es, oder es
wird ihm durä> eine zur linken Hand angetrante
Gattin zu wenig.

Ganz anders Onkel Vinzenz. Er hatte zum
Glück mütterlicherseits einen Teil von jener sitt-
lichen Kraft als Erbstück mit auf die Welt be-
kommen, die das höchste Gut der bürgerlichen
Gesellschaft darstellt: Den Familiensinn.

So erschien er eines Tages vor unserer Türe,
stellte sich schüchtern als der erwachsene dunkle
Punkt des Hauses vor und nachdem alle seine
Angaben sowie die genaue Höhe seiner Einkünfte
genügend geprüft und gewürdigt worden waren,
wurde er als entfernter Verwandter des Hauses
willkommen geheißen und der Schleier christlicher
Nächstenliebe über seine Herkunft gezogen. Muß
ich es sagen, daß wir Onkel Vinzenz in uneigen-
nützigster Weise ein Zimmer im obersten Stockwerk
zur Verfügung stellten, und zwar völlig kostenlos,
bis auf die Beistellung der Bedienung, die neben-
bei auch ein paar Stunden des Tages von 9 bis
8 für »ns zu kochen, einzuknufcn, zu flicken und
zu waschen hatte? Es war ein hübsches, helles
Stübchen mit der Aussicht mitten ins Grüne, das
gegenüber in einem Hoffenster gezogen wurde,
und lag den ganzen Tag so still und verträumt
da, daß die Mäuschen ohne Scheu aus und cin-
licfcn, und nach den Fliegen an der Wand guck-
ten, die in den kunstvoll gesponnenen Spinnen-
netzen sich verfingen. Kein unnützer Ofen ver-
stellte den kleinen intimen Raum, kein staub-
sammelnder unechter Teppich verletzte das Auge
oder gefährdete die Gesundheit des Znwohncrs
und kein wallender Vorhang schloß als Bazillen-
träger die frische Speicherluft, die kräftig von der
Dachlucke hereinwehte, ab. Auch an dem ge-
meinsamen Mittags- und Abcndtisch durfte Onkel

Vinzenz teilnehmcn. Er zahlte dafür
keinen roten Heller, denn bei uns
herrschte noch die edjtc alte Gast-
freundschaft des Patrizierhauses, er
lieferte höchstens für die beiden Mahl-
zeiten einiges frisches Gemüse, dann
das Fleisch, oder Wild und Ge-
flügel, alles aufmerksame Zutaten,
die ihm bei seiner ausgedehnten Kund-
schaft leicht zugänglich waren, und
wenn sic auch in der Küche ins Ge-
wicht sielen, so doch sicher nicht in
Anbetracht von Onkels Einkünften in
idealer Beziehung.

Eine direkte Vorliebe hatte der ein-
same Zunggeselle für Bäckereien. Tag
für Tag kam er mit einigen Paketen
vom Konditor angeschlcppt und fütterte
die Kinder damit. Wie oft fürchtete
Mama für die Zähne der Kleinen,
aber sie zankte aus zarter Rücksicht
für die Marotten Onkels nur im
schalkhaften Ton und überreichte ihm
dafür jedes Zahr die füllige Dentisten-
rcchnung. An feinem Geburtstag gab
cs dafür immer eine große, selbstge-
machte Torte mit Onkels Namens-
aufguß. Das schönste Stück schnitt
man dann den: Geburtstagskind he-
raus, es war immer jenes herrliche
Stück, auf dem die rote Rose prangte,
die aus Wachs und ungenießbar war.
Onkel Vinzenz betrachtete sie jedes-
mal gerührt und vergaß dabei ganz
auf die Torte, so daß wir uns für
dieselbe opfern mußten, um sie vor
dem Verderben zu bewahren. Tante
Katharina nannte ihn bei so feier-
lichen Gelegenheiten, die imnier mit
einen, lustigen Schwips Papas ende-
ten, den heiligen Vinzenz. Manch-
mal izuißte Onkel im Gasthaus speisen,
da er keine mit Zwiebeln bereitete
Speisen vertragen konnte, wichrcnd
uns dieselben doppelt schmeckten, oder
er bekam eine Wurst auf sein Zimmer, wenn er
sich nicht ganz wohl fühlte, kurzum er nahm
überall eine ihm gern eingeräumte bevorzugte
Stellung im Hause ein.

Nach Tisch pflegte Onkel zu rauchen. Man
stellte ihm dazu einen eigenen Rauchstuhl mit
drei schöngeschwungencn Beinen auf den Gang
hinaus. Zm Rauchzimmer verpestete er nämlich
mit feinem schlechten Kraut das ganze Aroma.
Bis er endlich aus Hamburg die feinsten Zm-
porten bestellte, die Papa und den übrigen Herrn
ausgezeichnet schmeckten. Eines Tages erschraken
wir nicht wenig, als Onkel plötzlich mit einem
Geigenkasten unterm Arm in den Salon trat
und zu siedeln anfangen wollte. Mama glaubte
gern an sein musikalisches Talent und erlaubte
ihm mit Vergnügen, manchmal die Noten umzu-
blättern, wenn Klein-Elschen Klavier spielte, hatte
auch nichts dagegen, wenn er uns Billetc in die
Oper besorgte, ansonsten bedeutete ihm Tante
Katherina, daß seinem Spiele in seinem Zimmer
oben nichts entgegenstünde, besonders wenn er
so hübsch pianissimo bei geschlossenen Fenstern
mit dem aufgesetzten Dämpfer musiziere. Zm
Sommer gingen wir aufs Land und ließen ihm,
damit er sich nicht so einsam fühle, unseren
Kanarienvogel Pippi und den Dackel Pcpi in
Kost und Quartier zurück. Auch empfahl ihm
Mama zur Zerstreuung, täglich die Fenster in
allen Zimmern zu öffnen, nach Einbrechern zu
spüren und fleißig nach den Motten zu sehen,
zu welch letzterem Zwecke man ihm das Schmetter-
lingsnetz Klein-Elschens zurückließ und einen in
seinem eigenen Interesse gelegenen penetranten
Naphthalingcruch. Außerdem gab ihm Tante
Katharina noch am Bahnhof einen Kuß und
verschiedene andere Lehren.

Aber es nützte alles nichts. Kaum hatte man
Onkel Vinzenz allein gelassen, vernachlässigte er
Pippi und Pcpi, indem er dem erstcren zuviel

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