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Der deutsche Sitgrsuiültn

Das rd!r krirgrrhaiipt im lEifrntjut,

Auf dem drin ßüti; leltlam nrfrffrlt ruht —
Wer mag es lein? Wer lieht la krlt dich an?
Wir nennt er lich der heldenhafte Mann? —
Kein Lin;rlnrr lieht ans dem iLiid heraus,

So lieht der deutsche Sirgrswillrn aus:
Andruglam, unrrlchnttrrt, unerlchlaftt,

Voll tirkem Lrnlt und ruhig sichrer 5;ralt.

Oj r i ö r n rfj r i ft

Das einsame Glück

Novelle von R. P r e v o t (z. 3. im Westen)

Der Zug, der von der Grenze Karn,
fuhr behutsam über die Brücke und in
den spärlich erleuchteten Bahnhof ein.
Werner sprang aus dem Abteil und schritt
dem Ausgang zu. Im engen, überfüllten
Gepäck-Verwahrungszimmer legte er seinen
Rucksack und die zwei Pappschachteln mit
Leibwäsche ab. Unter dem Glasdach des
Haupteingangs blieb er dann einen Augen-
blick stehen und schaute auf den öden
Bahnhofsplatz mit den entlaubten Linden
und dem Kleinen MusiKKiosK in der Mitte.

Wintergrau öffnete sich vor ihm das
Etappenstädtchen. Der trübe Dezember-
nachinittag neigte sich schon merklich dem
Albend zu. Schnee rieselte feucht und wurde sofort
zu Kot. Er schlug den Mantelkragen hoch und
schritt die breite „Bahnhofavenue" hinauf, die nach
dem Muster französischer Provinzstädtc an der
Doppelfront stattlicher Bürgerhäuser entlang führt,
mit einer ausgewachsenen Platane als Schildwache
an jeder Trottoirecke.

Er fand nichts verändert. Der Wachtposten
vor der Kommandantur stand an derselben Stelle
und guckte aus dem Schilderhäuschen dem rieseln-
den Regen zu. Werner wußte: wenn er über-
nachten wollte, mußte er sich hier Quartier an-
weisen lassen. Aber er ging vorbei. Vielleicht
fuhr er schon in der Nacht weiter — oder? —
Einerlei. Es zog ihn mechanisch dorthin, wo
sein Gedanke bereits war. In der letzten Zeit
seines längeren Genesungsurlaubs, dem einige
Wochen Ersatzbataillon folgten, war er allmählich
in ihm gereift, der uneingestandene, kindlich frohe
Gedanke dieses Abends.

Und dort stand auch schon das hoho graue
Haus hinter dem hohen Gitter, das den französi-
schen Ziergarten umschloß, mit seinen Linden und
seinen Beeten, wo im Sommer, von deutscher
Hand gepflegt, französische Tulpen und deutsche
Vergißmeinnicht ihn bnnt umblüht hatten, die jetzt
welk und farblos lagen.

Werner blieb vor der kleinen Pforte neben
dem Schließcrhäuschen stehen und las die weiße
Aufschrift auf dem schwarzen Holzbrett: „Hilfs-
lazarett 2."

Hier hatte er gelegen, wochenlang, in der
frostigen Nähe des Todes. Hier war er langsam
wieder auferstanden zum herrlichen Leben, das
duftend aus diesem Garten zu ihm aufstieg. Werner
suchte am Haus das Fenster, durch das er er-
wachend geschaut, in dessen himmelblauem Rahmen
zum ersten Mal das Zauberbild ihm erschienen
war, mit der Schwesternhaube auf dem blonden,
übersonnten Mädchenhaar.

Er hatte geklingelt. Der Wachhabende fragte,
was er wollte?

„Ist Schwester Sophie noch hier?"

Schwester Sophie? Der Landstürmer kannte
keine Namen. Aber der Herr Feldwebel könne
firi) drinnen erkundigen. Im Empfangsvorraum
erhielt er die Antwort: Ja, Schwester Sophie
war noch hier, und sie war wohl gerade beim
Essen. Ob es dringend fei, und ob man sie
rufen solle? .. . Dringend? Ja, ihm war es sehr
dringend!

Er wollte sich nicht setzen und schritt nervös
unter dem Torgcwölbe auf und ab. Die Erinnerung
umstürmte ihn. Hier hatten sie ihn hereingefahren,
besinnungslos, fast tot. Und hier hatte er in
wenigen Wochen eine neue Kindheit durchlebt,
hatte wieder die Augen blinzelnd auftun und mit
hilflosen Händen tasten gelernt, hatte Milch ge-
sogen und Brei geschluckt und in einer weißen
Wiege gelegen, ahnungsloser als ein Säugling.
Und neben ihm stand sie . . . Überlebensgroß
füllte sie feine Erinnerung mit dem Bilde ihrer
Jugend, ihrer Schönheit, ihrer Güte.

Sophie, Mutter. . Schwester . . . Liebste!

Das letztere Wort erstarb auf seinen Lippen
Es kam ihm jetzt unaussprechlich vor. Es gellte
plötzlich wie ein Mißton durch die reine Kindlich-

keit seiner Erinnerung. Es war etwas Dazu-
gekommenes, drüben, fern von hier, seit er wieder
gesund, wieder stark, wieder ganz Mann war.
Und doch war es das, was ihn hergeführt hatte,
was ihn diesen Umweg über das französische
Etappcnstädtchcn wählen ließ.

Die letzten Monate hatten ihm seine volle,
gesunde Kraft wiedergegeben, und auch die Er-
fahrung aus dem früheren Leben, aus seinen ersten
fünfundzwanzig Jahren waren wieder sein voller
geistiger und seelischer Besitz. „Kindskopf!" sprach
er sich oft an. Aber dann lachte es immer wieder
auf, das Märchenbild im sonnigen Fenster. Ihre
Stimme sang schmeichelnd und die Erinnerung an
ihre Liebesdienste umkoste ihn. Oh, diese ersten
sanften Frauenhünde nach den langen harten Kriegs-
monaten, diese erste Lebensverheißung nach dcrVer-
bannung im Grenzlande des Todes! . . . Und ihm
war, als habe sie einmal, da er noch fiebernd lag
und aus matten Lidern in rote Lohe schaute —
war's der Abend im Fenster oder war's innere
Glut? — als habe sie ihn da auf den Mund ge-
küßt. Traumschweres Glücksgefühl, unruhvolle
Frage, in sein Leben eingebrannt wie ein Fieber-
mal. Er wollte, mußte wissen, mit sich ins Reine
kommen . . .

Plötzlich sah er sie durch die Glastür die er-
leuchtete Stiege herunterkommen. Sie war's, sie
war's! . . . Er riß die Tür auf und trat auf sie
zu: „Schwester Sophie . . . ." Sie stutzte
„Kennen Sie mich nicht mehr, Schwester Sophie?"

„Ja richtig, ja . . . jetzt erkenn' ich Sic. Herr
. . . Werner, Unteroffizier Werner, nicht wahr?


Anton IToflYnann

Ach nein, inzwischen „Vize" geworden,
wie ich sehe. Gratuliere auch. Und wie
gut Sie aussehen. Nein, wie Sie sich
hcrausgemacht haben. Das freut mich, das
freut mich aufrichtig. Und wie kommen
Sie hierher?"

„Ich fahre wieder zur Front, und da
wollte ich im Vorbeigehen . . ."

„Ihr Lazarett aufsuchen, wo Sie wieder
gesund geworden sind? Das ist nett von
Ihnen."

Er wollte hcrausschrcien: „Nein, Sophie,
nicht das Lazarett, nicht das Lazarett!..."
Aber wie er sie so anschaute, erkannte er
sie plötzlich nicht mehr. Er fühlte, wie er
mit einem Ruck fünfundzwanzig Jahre
älter wurde. Das gab ihm Haltung.
Er raffte sich zusammen und lächelte,
fast weltmännisch, und führte grüßend die
Hand an die Mütze.

Sie dachte, er wolle sich verabschieden und
hielt ihn nicht, reichte ihm die Hand und schüttelte
fest und frei die seine, unbefangen, wie eine
Kameradin.

„Also lassen Sie sich's gut gehen, und wenn
Sie mal wieder vorbeikommen . . ."

„Leben Sie wohl, Schwester Sophie . . . ."
Mehr brachte er nicht heraus . . . und stand schon
wieder draußen vor dem hohen Eisengitter. Da
erst schaute er sich um und sah im dunkelnden
Abend blasses Licht durch die Fensterreihc schim-
mern. Und da ward es chm klar: Hier hatte er
als Kind gelegen, und an seinem Platze lag jetzt ein
anderer, und daneben nufgereiht in weißen Wiegen
zehn, zwanzig, fünfzig andere, und träumten den
gleichen Kindertraum. Ihr Fiebcratcin machte in
den weißgetünchten Sälen die Luft schwül und
schwer von Todesangst, und Scl>westcr Sophie,
irgend eine Schwester Sophie stand an ihrem Bett,
hielt ihre matte, heiße Hand und lächelte sie wie
ein Engelsangesicht in den süßen gesundenden
Schlaf, half ihnen zurückfinden ins Leben, das
sie verloren hatten irgendwo draußen, in einer
furchtbar gewaltigen Stunde, dis ihnen den Atem
genommen hatte und alle Erinnerung . . .

„Kindskopf!" dachte er ohne Bitterkeit und
gab sich den Ruck, der die vorschriftsmäßige Hal-
tung verleiht.

Er überdachte stürmisch, leidenschaftlich, was
ihm längst Erfahrung und Erlebnis war: - die
vielen schönen, lockenden Wünsche, die verfliegen
wie Rauchfahnen! Aber es bleibt von ihnen ein
Duft um dich her! Häng' dich nicht an deine
Sehnsucht wie ein Gewicht! Lass' sie fliegen wie
die Wolke über deinem Haupt. Und lerne das
Höchste im Kleinsten fühlen: das größte Glück,
zri sein! ...

Rasch füllte sich die kurze Leere in ihm mit
allerlei Lebendigem, mit Stärke und mit Wahrheit
und mit Willen . . .

Trotz des wenig einladenden Wetters war zu
dieser Stunde etwas Verkehr auf der Hauptstraße,
die das Städtchen durchschneidet. Werner beschloß
zu schlendern, ehe er ein Lokal aufsuchte. Aber
das Bild war nicht dasselbe, wie an den blauen
Eommerabenden, da er hier als Genesender seine
ersten Spaziergänge gemacht hatte.

Es war einer jener Abende, wie sie Dosto-
jewski liebte, und die an Raskolnikoff erinnern:
„Wenn die Vorübergehenden bleid) erscheinen,
wenn es schneit, wenn cs feucht niedergcht, grad
herab, windstill, und die Gaslaternen hindurch-
fdjcincn . . ."

Stumme Gestalten hasteten vorbei wie Ge-
spenster. Meist Feldgraue. Nur wenige Zivilisten
mit aufgcspunnten Regenschirmen. Wie er vor
einem erleuchteten Parfümeriegeschäft stehen blieb
und die spärliche Auslage musterte, wo neben
einigen Zahnbürsten ein paar letzte, vermutlich
leere Seifenschachteln und Duftfläschchcn standen,
da ging hinter ihm ein Gestellt vorüber, das ein
paar Sekunden in den Hellen Spiegel der Auslage
schaute und ihm zuzulächeln schien. Es war ein
kurzes Leuchten gewesen. Er wandte sich um
und ging hinter dem Schirm her, unter dem ein

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Register
Anton Hoffmann: Schwerverwundet
Heidenchrist: Der deutsche Siegeswillen
René Prévot: Das einsame Glück
 
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