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De letzte Vigelin

Lütt Trilling wullt mal danzen gähn
Jtl mitten, mieden Röckschen;

Sei steckt sich bleuschig roden Mahn')

In ehre blonden Löckschen.

Doch as sei kein woll in den Saal,

Da brennten keine Lichter;

Bloß Schatten wcwten np nn dal

Uii hadden witt Gesichter.

bin ntn Schummern, sacht un sin,

Sung einsam eine Vizelin:

„Vizelin, Vizelin, Vigelining,-

Lütt Trining, — lütt Mining,

Lütt Anning nn Marieken,

Marzreit nn Liesch nn Ficken,

Ji Diernings all von nah un firn,

Ji danzt so girn, ach Gott, so girn.

Doch hüt is keine Danzenstied, —

Ing Danzers alle sünd avsiet;

Jehann un Franz
bin Paul un Hans,

Georg nn Hinrich, Steffen, Jürn,

De Jnngkirls alle nah un firn,

Ing Ogentrost nn Herzbegier,

Sei snnd »ich hier, o langst »ich mihr!

Sei danzen Hut np anner Stell,
llp grenner Wisch, np grenner Well,

Woll oemer Wolk' und Felsenkant, —

Sei danzen all fort Vaderland.

Doch statts lütt Diernings, rund un rot,
Hemm sei in Arm den griesen Dod."

Hei grient en an un summt dabi:

„O, kumm mit mi!"

-Genau as ji-■--

Uii manchmal gähn sei mit em mit
In sine Kamer, eng un lütt,

Un sacken np sin Lager dal.

Un dabi denken s' noch einmal
Jüst as in Drom, verworrn nn krns,

An all de lütten Dierns tau Hus,

An Mining, Liiiing, Trining,

An Lieschen, Lott nn Stining,

An roden Mahn, so gleunig rot,-

Un sehnen sich un winken t'rü:

„Atjüs, atjüs!-nn denk an mi!"--

Un sinken sachten in den Dod.

„Kiek in den Saal, lütt Trin, kiek in.

Kann sin, du sühst bin' Schatz,-- kann sin!

Viellicht is sine Seel dabi
Un söcht^) na di un frögt") na di!

Na di, lütt Trin,

Lütt Trining!-

Vize-Vizelin-

Vigelining!"

„Ning!" summt tat noch — nn nochmal „Ningl"
As wenn ein Süszen sacht verging.

Still dörch den dodig düster» Saal
De Schatten weben np un dal.

Un einer blivt vor Trining stahn
Un langt na ehren roden Mahn .....
„Huch!" kriescht de Diern nn ritt') sich los,
Wakt np un süht, — sei drömte bloß. ....
Da weint sei lut in groter Not:

„Min leiwster Willem, du büst dot!"
- Martha Müller

i) Mohn - y sucht — fragt - «) reißt.

In der Nacht

Wölbender Dom, besät mit Sternenstammen!

Es fügt sich still mir Hand und Hand zusammen,
Als müßt' ich halten mich vor so viel Pracht.

Ich höre Stimmen aus der tiefen Nacht —
Mein Ohr vernimmt sie nicht, nur meine Seele,
Die so viel wunderreicher Schönheit froh.

Ich rufe. . . doch es dringt aus meiner Kehle
Kein Laut, blnd fühle doch, daß irgendwo
Ein Herz dem meinen lauscht in weiter Ferne.
Auf diesem oder einem andern Sterne!

Paul Warncke

*

Oer grüne Kasten

Naletvüi heißt eine langgestreckte, einige Male
stumpfwinklig gewundene Straße in Warschau.
Hier wohnt das Volk Israel, Haus an Haus,
Laden an Laden. Namen von grotesker Bunt-
farbigkeit stehen auf grellen, mit primitiver Ein-
dringlichkeit gemalten Firmenschildern. Und die
Straße nimmt Leben von dem geschäftigen Ge-
haben, der lauten, gestenreichen Sprache des mitt-
leren und kleinen Judentums. Biel Armut und
Elend ist hier, viel Herzenshärtigkeit und Geld-
gier, viel halbversteckter Wohlstand, oft ängstlich
vor fremden Blicken gehütet, viel Erstarrung in
heilig gehaltenen Überlieferungen, aber auch viel
verborgenes Sehnen und Ausschauen nach dem
heiligen Sterne Zions. Biel Lächerliches in ernstem,
viel Ernstes in lächerlichem Gewände. —

Eins der niedrigen, hölzernen Hinterhäuser in
dieser Straße gehörte dem Händler Aaron Zitron.
Es sah aus, als sei noch kein Strahl einer höhe-
ren und reicheren Freude in seine Fenster gefallen.
Zwischen zwei mehrstöckige Nachbargebäude ein-
gezwüngt, blickte es scheu und geduckt wie ein
verprügelter Hund auf den engen, schmutzigen,
übelriechenden Hof.

Im Keller dieses Hauses wohnte in eineni
feuchten, halbfinsteren Gelaß Chaim Pruzanski,
der taube Narr. Außer Aaron Zitron, dem Bru-
der feiner Mutter, gab es keinen Menschen, der
sich um ihn kümmerte. Da er zurückgeblieben
am Geiste und verkrüppelt am Körper war, galt
er den Leuten als der von Gott Gezeichnete, der
gestraft ist, um der Sünden seiner Väter willen.
.— Denn die Juden von Nalewki sind ein from-
mes Volk.

Chaims kleine verwachsene Gestalt mit dem
großen, tief zwischen de» Schultern ruhenden Kopf,

Die Gaukleriu

0. Model

/

dem leicht gekrümmten Rücken und dem seltsam
schleifenden Gang war allen Bewohnern der um-
liegenden Straßen vertraut. Täglich um dieselbe
Stunde ging er denselben Weg. Und wie auch
Wetter und Jahreszeit sein mochten, immer lag
derselbe Zug von gelassener und gegenstandsloser
Heiterkeit um seine großen, etwas vorstehenden
Augen, um den stets geöffneten, länglichen Mund
mit den fahlen Lippen.

Chaims enges, kümmerliches Dasein drehte
sich um zwei Pole.. Der eine war Aaron Zitron.
Er kleidete, nährte, herbergte ihn und flößte ihm
Furcht ein. Chaim empfand jedoch diese Furcht
als notwendig und als organisch mit seinem Leben
verbunden. Jeden Morgen empfing er von Aaron
einige Pack Streichhölzer und jeden Abend lieferte
er den Erlös und den Rest seiner Ware wieder
ab. Der Oheim war ein mißtrauischer Rechner
und zählte beides genau durch. —

Verkörperten sich so für Chaim alle trüben,
grauen Notwendigkeiten des Alltags in Aaron
Zitron, so sprang auf der anderen Seite eine un-
versiegliche Quelle, die ihn immer wieder mit
Trost und Heiterkeit tränkte. Das war der an-
dere Pol im Leben des tauben Narren, und er
bestand in nichts mehr als dem hölzernen Waren-
kasten eines alten Juden, der mit Schuhwichse,
Schnürsenkeln, Zigaretten und Apfelsinen hausierte.
Chaim halte seinen Standplatz am Wiener Bahn-
hof und auf dem Wege dahin begegnete er täg-
lich dem Alten. Nie hatte er ihm einen Blick
geschenkt, nie seine Züge sich einzuprägen versucht.
Er mar ihm nur der zufällige Träger, der gleich-
gültige Diener eines Gegenstandes von unerhörter
Kostbarkeit. Aber der Kasten, der Kasten! Breit
und massig war er gebaut, prachtvoll grün ge-
strichen, innen und außen. Und die Innenseite
des stets geöffneten Deckels zeigte auf giftgrünem
Grunde, roh und ungeschickt hingekleckst, ein
himmelblaues Stück Meer neben einem schnee-
weißen Hause, dessen vorspringendes Dach von
zwei Säulen gestützt wurde. Und zwischen Haus
und Meer stand in fröhlicher Unbekümmertheit
um alle Gesetze der Perspektive eine violettge-
kleidete Dame mit rabenschwarzem Haar und
hielt in der hocherhobenen Hand eine Dose mit
Schuhwichse zuni Himmel empor. Diese sandte
ihrerseits zwei grelle, breite Strahlen in Gestalt
eines schwefelgelben und eines knallroten Balkens
aus, die an der grünen Umrahmung wie abge-
brochen aufhörten. —

Dieses Bild war für Chaim der Inbegriff
alles Schönen und Erhabenen. Die violette Dame,
das blaue Meer, das säulcngeschmückte Haus
und nicht zuletzt der gelbe und der rote Strahl
erschienen seinem armen, kindischen Geiste wie
die Bürgschaft einer höheren Welt, die Verheißung
einer unfaßbaren, leuchtenden Herrlichkeit, die
irgendwo bereit liegen mußte. Einmal, das fühlte
er, mußte sie in die Erscheinung treten und ihren
Glanz auch über ihn ausgießen. Nie hätte er
ir Gedanken gewagt, sich diesen Kasten an Stelle
des armseligen, geflochtenen Weidenkorbes zu
wünschen, in dem er seine Streichhölzer trug.
Ihni genügte es, ihn täglich in, Vorbeigehen
anzusehen lind alles nn ihn zu verschwenden,
was an Fähigkeit zu Liebe und Verehrung unter
der Dumpfheit und Gedrücktheit seines Wesens
schlummerte. — So betet der primitive Mensch
ein selbstgeschnitztes Stück Holz an, i» dem er
doch iir höheren Augenblicken Ausdruck und
Träger seiner eigenen, noch unerschlossenen Emp-
findungswelt ahnt. —

Chaim Pruzanski spürte es nicht, daß die
Zeit ein anderes 'Angesicht gewann. Wie immer
stärkte er seine arme Seele im Anschauen des
grünen Kastens, wie immer rief er in monotonem,
klagendem Tonfall: „spitschki! zapalki!" Wie
immer tauschte er seine Ware gegen die großen,
kupfernen Geldstücke und nahm es mit ruhiger,
neugierfreier Befriedigung hin, daß die Soldaten
in den grünlichgrauen Blusen inimer mehr in
der wachsenden Zahl seiner Kunden überwogen.
Er achtete kaum darauf, daß das Leben in der
Stadt hastiger, nervöser, unruhiger und kriege-

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Register
Oskar Model: Die Gauklerin
Werner Bergengruen: Der grüne Kasten
Martha Müller-Grählert: Die letzte Vigelin
Paul Warncke: In der Nacht
 
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