Abend am Rofan
Gustav Bechler (Maurach)
Abend
2fff ein Abendsriede jetzt im Tal!
Leise lebend,
Stille noch erbebend.
Trinkt die Erde von dem letzten Strahl,
Horch, die Silberbläkter flüstern sacht!
Ibach ein Dehnen
Und nach Sonne Sehnen —
Eh ans weichen Sohlen naht die Nacht.
Wie ein Mägdlein liegt das Wehr bekränzt.
Muß dem Himmel in die lichten, blauen
Augen immer schauen, schauen.
Bis auch ihn, das Auge selig glänzt.
Otto Geiger (im Felde)
*
Die Stunden,
die so sind wie wilder iMohn
Die Stunden, die so sind wie wilder Mohn;
Die Stunden ohne Pflicht und ohne Lohn;
Die unerwartet uns am Wege stehn;
Die purpurn blühen und im Wind verwehn:
Sind'ö nicht die echtesten im Trug der Zeit?
Die andern fliehn — fi e sind Dir Ewigkeit.
Hermann Gebhardt
Der Klepper
Bon Jakob Schaffner
Bon einer kranken Freundin kommend, ging
ich gegen Abend meiner Wohntlng 511, erfüllt
von Betrachtungen, welche sich um die faßbare
Darstellung eines seelischen Haltes für den zwei-
felnd leidenden Menschen der Gegenwart bemühen,
als mein Blick von der innern Erscheinung weg
auf eine äußere gelenkt wurde, die zunächst wenig
Besonderes an sich halle. Wir find leider gewöhnt,
vor schweren Fuhrwerken traurige alte Pferde zu
sehen, die den Kopf hängen und die der Hunger
und die Überanstrengung zu Gerippen gemacht
haben. Hier war es ein Schimmel, der mit seinem
Wagen vor einem großen Blumengeschäfl hielt.
Aus dem Innern des blauen Kastens wurden
grüne Pflanzen und blühende Kunstwerke heraus
genommen und mil Sorgfalt über den Bürgersteig
in den Verkaufsraum getragen, wunderbare Arten
von Astern und Alpenveilchen, herrliche Chrysan-
themen, Lilien, sogenannte Fest-Arrangements in
Gcschenkkörbcn mit seidenen Bändern garniert,
Palmen und luxuriöse Kränze für Theaterfeiern
und Begräbnisse, und alles hatte der elende alle
Schimmel für die Kaufkraft eines vergnügungs-
lustigen und putzsüchtigen Großstadtpublikums
heran geschleppt.
Ein junger Fuhrmann und eine Verkäuferin
aus dem Laden gingen abwechselnd ab und zu,
mit den schönen Gewächsen beladen. Das Mädchen
war sauber gekleidet und ziemlich hübsch, mit
einem hingebenden fraulichen Gesichtsausdruck,
wenn es auch offenkundig unter dem allgemeinen
Mangel litt und blasser war, als ihm von Natur
zuftand. Der Fuhrmann war ein bleicher Bursche
mit eingefallenen Wangen und von einer sogleich
in die Augen fallenden Verkommenheit. Sein
Gesicht war von ungesunden Pusteln und Finnen
übersät. Er steckte ohne Hemd in seinem schlot-
tcrigen und farblosen Anzug. Auf dem Kopf saß
ihm schief eine Mütze, die ihm ein gemeines und
verwegenes Ansehen verlieh. Mit dem rohen und
aufsässigen Ausdruck feiner Züge und einer starken
körperlichen Hcrabgekommcnheit stellte er so alles
in allem einen Menschen dar, der in uns ebenso
viel Mitleid als Abneigung erweckt. Zwischen
den blutlosen Lippen hielt er eine Zigarette.
Der Schimmel mochte ein Tier von etwa
fünfundzwanzig Jahren sein Eigentlich wurde
ich nur durch den packenden Gegensatz auf ihn
aufmerksam, in welchem er zu den Dingen stand,
die er hinter sich her schleppte. Über seinen Augen
gruben sich tiefe Löcher ein, die der Mangel und
das Alter dort bildeten. Das Rückgrat starrte
um die Höhe einer Handbreite hart und scharf
ins Tageslicht auf, che sich der magere Rumpf
darunter ansetzte. Es wäre deshalb ganz un-
möglich gewesen, auf ihm zu reiten. Jede Rippe
war von der anderen durch eine schmerzhafte
Hungerrinne getrennt, die weit bis auf die Seite
herunter verlief. Der Rücken schien ganz unglaub-
haft zwischen der dürren Kruppe ruid dem hohen
beinernen Hüftgestell aufgehängt, und das Ganze
konnte bloß noch durch das abgebrauchte grau-
weiße Fell zusammen gehalten sein. Das Marter-
bild mußte sicher auseinander fallen, sobald jemand
mit cincnt scharfen Messer eilten Hautschnitt vor
den Hüftenknochen vorbei ausführte, und diese
Vorstellung wirkte geradezu peinigend, denn es
war unmöglich, die Kreatur zu sehen, ohne ihr
eine baldige gnädige Auflösung zu wünschen. Doch
war in allen diesen Umständen noch nicht das
Übermaß enthalten, welches wir heute in der Zeit
der größten Anspannung aller Kräfte brauchen,
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Gustav Bechler (Maurach)
Abend
2fff ein Abendsriede jetzt im Tal!
Leise lebend,
Stille noch erbebend.
Trinkt die Erde von dem letzten Strahl,
Horch, die Silberbläkter flüstern sacht!
Ibach ein Dehnen
Und nach Sonne Sehnen —
Eh ans weichen Sohlen naht die Nacht.
Wie ein Mägdlein liegt das Wehr bekränzt.
Muß dem Himmel in die lichten, blauen
Augen immer schauen, schauen.
Bis auch ihn, das Auge selig glänzt.
Otto Geiger (im Felde)
*
Die Stunden,
die so sind wie wilder iMohn
Die Stunden, die so sind wie wilder Mohn;
Die Stunden ohne Pflicht und ohne Lohn;
Die unerwartet uns am Wege stehn;
Die purpurn blühen und im Wind verwehn:
Sind'ö nicht die echtesten im Trug der Zeit?
Die andern fliehn — fi e sind Dir Ewigkeit.
Hermann Gebhardt
Der Klepper
Bon Jakob Schaffner
Bon einer kranken Freundin kommend, ging
ich gegen Abend meiner Wohntlng 511, erfüllt
von Betrachtungen, welche sich um die faßbare
Darstellung eines seelischen Haltes für den zwei-
felnd leidenden Menschen der Gegenwart bemühen,
als mein Blick von der innern Erscheinung weg
auf eine äußere gelenkt wurde, die zunächst wenig
Besonderes an sich halle. Wir find leider gewöhnt,
vor schweren Fuhrwerken traurige alte Pferde zu
sehen, die den Kopf hängen und die der Hunger
und die Überanstrengung zu Gerippen gemacht
haben. Hier war es ein Schimmel, der mit seinem
Wagen vor einem großen Blumengeschäfl hielt.
Aus dem Innern des blauen Kastens wurden
grüne Pflanzen und blühende Kunstwerke heraus
genommen und mil Sorgfalt über den Bürgersteig
in den Verkaufsraum getragen, wunderbare Arten
von Astern und Alpenveilchen, herrliche Chrysan-
themen, Lilien, sogenannte Fest-Arrangements in
Gcschenkkörbcn mit seidenen Bändern garniert,
Palmen und luxuriöse Kränze für Theaterfeiern
und Begräbnisse, und alles hatte der elende alle
Schimmel für die Kaufkraft eines vergnügungs-
lustigen und putzsüchtigen Großstadtpublikums
heran geschleppt.
Ein junger Fuhrmann und eine Verkäuferin
aus dem Laden gingen abwechselnd ab und zu,
mit den schönen Gewächsen beladen. Das Mädchen
war sauber gekleidet und ziemlich hübsch, mit
einem hingebenden fraulichen Gesichtsausdruck,
wenn es auch offenkundig unter dem allgemeinen
Mangel litt und blasser war, als ihm von Natur
zuftand. Der Fuhrmann war ein bleicher Bursche
mit eingefallenen Wangen und von einer sogleich
in die Augen fallenden Verkommenheit. Sein
Gesicht war von ungesunden Pusteln und Finnen
übersät. Er steckte ohne Hemd in seinem schlot-
tcrigen und farblosen Anzug. Auf dem Kopf saß
ihm schief eine Mütze, die ihm ein gemeines und
verwegenes Ansehen verlieh. Mit dem rohen und
aufsässigen Ausdruck feiner Züge und einer starken
körperlichen Hcrabgekommcnheit stellte er so alles
in allem einen Menschen dar, der in uns ebenso
viel Mitleid als Abneigung erweckt. Zwischen
den blutlosen Lippen hielt er eine Zigarette.
Der Schimmel mochte ein Tier von etwa
fünfundzwanzig Jahren sein Eigentlich wurde
ich nur durch den packenden Gegensatz auf ihn
aufmerksam, in welchem er zu den Dingen stand,
die er hinter sich her schleppte. Über seinen Augen
gruben sich tiefe Löcher ein, die der Mangel und
das Alter dort bildeten. Das Rückgrat starrte
um die Höhe einer Handbreite hart und scharf
ins Tageslicht auf, che sich der magere Rumpf
darunter ansetzte. Es wäre deshalb ganz un-
möglich gewesen, auf ihm zu reiten. Jede Rippe
war von der anderen durch eine schmerzhafte
Hungerrinne getrennt, die weit bis auf die Seite
herunter verlief. Der Rücken schien ganz unglaub-
haft zwischen der dürren Kruppe ruid dem hohen
beinernen Hüftgestell aufgehängt, und das Ganze
konnte bloß noch durch das abgebrauchte grau-
weiße Fell zusammen gehalten sein. Das Marter-
bild mußte sicher auseinander fallen, sobald jemand
mit cincnt scharfen Messer eilten Hautschnitt vor
den Hüftenknochen vorbei ausführte, und diese
Vorstellung wirkte geradezu peinigend, denn es
war unmöglich, die Kreatur zu sehen, ohne ihr
eine baldige gnädige Auflösung zu wünschen. Doch
war in allen diesen Umständen noch nicht das
Übermaß enthalten, welches wir heute in der Zeit
der größten Anspannung aller Kräfte brauchen,
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