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Die Einsegnung

Von Erich K. Schmidt

„Um die Wahrheit zu sagen," klang der Mut-
ter die Stimme des Arztes von fern ins Ohr:
„es ist die galoppierende Schwindsucht. Seien Sie
stark. Bereiten Sie sich vor."

Die Frau schwankte. Wo ist doch die Tür?
Sie sah keine Tür. Ein schwarzer Abgrund war
plötzlich hinter ihr: da hinein schwankte sie: grußlos.

Sterben müssen. So jung. Noch lag das
Leben, ein Labyrinth voll schöner und schrecklicher
Rätsel vor ihrer Tochter Augen. Und sie selbst:
tausend Mühen umsonst. Unendliche Kräfte, hin-
gegeben an die Macht frühen Todes. Egoistische
Menschenqual kämpfte mit den reinen Schmerzen
strahldurchbohrten Mutterherzens. Der Gatte weilt
seit Jahren fern in unseligem Kampf. Kurzer
Urlaub weht hin wie ein Gedanke. Ehe der Va-
ter wiederkommt, steht das Bett seiner ältesten
Tochter verwaist. Ilse, die Jüngere, mit den klu-
gen Augen, ist einziger Trost. „Sei mir Anker
und Halt, Ilse, du Kleine," weint es verzagt in
der schwankenden Frau.

Die Straßen liegen im Zwitterlicht. Wer sagt,
daß die Sonne scheint? Es ist Nacht: rings um
die Mittagszeit. . .

»

„Gewährt es Ihnen Trost, so soll Ihre Toch-
ter noch Mitglied der christlichen Gemeinschaft wer-
den. Auch ohne Konfirmanden-Unierrichl", sagte
der alte Pfarrer. Er hat gute blaue Augen und
eine sonore Stimme mit suggestivem Ton.

„Drei Wochen noch . . ." seufzt ein verquirlter
Mund.

„Seien Sie unverzagt: Der Herr lenkt unser Aller
Wege. Verraten Sie Ihrer Tochter nicht, daß sie
vom Tod gezeichnet ist. Sie soll in Frieden gehen."

„Lieber Herr Pfarrer, td) bin so wund . . ."

Da legte der Alte seine Hand über die Stirn
der Frau, sodaß er ihre roten, entzündeten Lider
nidst mehr sieht. „Seien Sie stark. Gehen Eie
mit Gott. Im Hause des Herrn sehen wir uns
wieder."

*

Ilse weiß nun alles. Ihre Schwester darf
nur noch etwa drei Wodien leben. Sie wird in den
näd)sten Tagen eingesegnet. Sah man je ein sie-
benjähriges Gesid)t so sehr beherrsdit? An der
Kleinen richtet fid, die schwache Kraft der Mutter
auf. Sie kod>t und flickt: sie schreibt Briefe voller
Vernunft an den fernen Aiann: es geht alles gut zu
Haus. Er soll sich keine trüben Gedanken mad>en.

An Tagen, die behende entschlüpfen, werden
Vorbereitungen zur Feier getroffen. Aus feind-
lid>em Land kommen Eier und Mehl. Es soll
einen Kuchen geben wie in friedlichen Tagen. Ver-
wandte werden plötzlich eingeladen. Der nädiste
Sonntag, wißt ihr, wird ein Feü. Sie sollen
alle ersdteinen und lieb zu ihrem Kinde sein.

Indeß die Mutter werkt und schafft, sitzt Ilse
mit der Sdtwester um Fenster. Die Kleine liest
Fabeln und lacht dabei laut; denn es sind sehr
drollige Fabeln. Sie liest mit gehobener Stimme,
denn ihr Schwesterchen hört schon schlecht. Alle
Kräfte ließen nach.

Die Kranke sitzt gebeugt in ihrem Stuhl. Sie
lausdit der schwesterlichen Stimme. Aber dazwi-
schen vernimmt sie Töne, die aus rätselhafter
Ferne klingen.

„Hörst du Musik, Ilselcin?"

Das Fabelbuch klappt zu. Ein blonder Kopf
sinkt in der Kranken Schoß. Kinderlippen flüstern:
„Nein, ich höre keine Musik. Doch! im Hof wird
Geige gespielt."

Die Worte klingen zu leise, sie erreidien das
Ohr der Kranken nicht. Große Augen blicken
über die Schwester hinweg: durch Glas und Wände
hindurch, hinaus über den kalten, traurigen Hof,
dorthin, wo Wolken über ein karges Himmels-
quadrat wandern.

Die Mutter schaut durch die Kückentür. Die
roten Flecken auf den Wangen der Kranken bannen

G. Petzoldt

ihren Blick. Sie wollte, mit lustiger Stimme,
sagen: „Kinder, der Kuchen ist fertig!" Nun wird
jedes Wort in ihrem Hals erwürgt. Die Tür
schnappt schwer ins Schloß.

Inmitten der guten Stube sind alle Tisdie zu-
sammengerückt: so entstand eine lange Tafel. Sie
geht von Wand zu Wand. Unendlich viele Tassen
stehen darauf. Kuchen und Torten schimmern
bräunlich. Eine rosafarbene Frud)tspeise ziert die
Mitte. Auf dem Sofa hocken die würdigen Tanten
aus Darmstadt und Königsberg. Sie machen for-
ciert lustige Gesichter, aber der Kundige sieht: sie
beherrsd>en fid, nur schiedst. Auf den Stühlen
ringsumher sitzen andere Verwandte, lauter Frauen
aus der großen Stadt. Einige Plätze sind frei:
Dort lasten sid, die Nad,barinnen er; dt und leise
nieder, um Kaffee und Kuchen zu probieren. Ja,
es ist alles echt. Der ferne Gatte verhilft dann
und wann zu seltenen Genüssen.

Auf einem Tisd, zur Seite häufen sich Blumen-
sträuße. Man mußte sich Tassen und Basen leihen.
Seht: letzte Rosen brennen in sommerlicher Sehn-
sucht. Nelken tropfen aus Hellen Blütenzacken
Duft. Gladiolen recken sid, starr, violett. Erste
Astern runden sid, zu sanften Kissen. Und einer
brachte eigensinnige Ord,ideen

Die Mutter rennt umher, die Kaffeekanne
immer neugefüllt in der Hand. Sie scherzt, und
in der Kehle stedrt ein Weinen. Bersd,rumpft ist
ihr Gesicht, entzündet sind ihre Lider. Ilse hat
ein weißes, kurzes Kleidd>en an. Sie ist voll
Eifer und Ernst. Und trotzdem: lad,endes Leben
an der Seite der Schwester in tiefem Sd,wurz.

Die Kranke lädielt glücklid, und rein. Ihr
Ehrentag. Sie ist Mittelpunkt, um den eine wohl-
gesinnte Welt sid, schmiegt. Auf der Kommode
liegen Armbänder, Ringe, eine Uhr. Karten mit
Glückwünsd,en und frommen Sprüd,en. Und eine
wertvolle Brosd,e ist dabei: sd,weres Gold, mit
Granaten besetzt. Die hat ihre Mutter von der
Großmutter zur Konfirmation erhallen. Jetzt ist
sie in ihrem Besitz. Und ein starres Läd,e!n ver-
eist auf allen Zügen, als die Kranke sagt:

„Später bekommt auch meine älteste Tod,ter
diese Brosd,e einmal . . . ."

Gut, daß ein neuer Gast erscheint. Er bringt
ein Fläsd,d,en Parfüm in feiner Schadstel.

„Ach", ruft die Kranke, „Mutter, sieh: nun
werde id, eine ganze Dame!" Tropfen, auf das
sd,warze Kleid gespritzt, verbreiten zarten Wohl-
geruch, der in den Duft der Blumen hinüber-
sd,wimmt.

Aber dann gibt es Augenblicke, da die Konfir-
mierte ganz in sid, zusammensinkt. Ihre Augen
werden apathisch und leer, ihre Züge stumpf. Sie
geht, mit hängenden Knieen, quer durch das Zim-
mer, dorthin, wo ihre Gesd,cnke liegen. Ihre
blassen, dürren Finger greifen nach der Uhr, dem
Armband und lassen beides kraftlos fallen.

Die Stimmen der anderen, die sie nur ver-
nimmt, wenn sie mit lauteren Akzenten auf sie
eindringcn, versinken für ihr Ohr, wenn sie ge-
dämpst sie umschwirren. Rings um sie her wird
die Stube tot und hohl, die Wände weichen, und
eine sphärische Landschaft umfunkelt ihre weltge-
lösten Blidre.

„Ad,, war das heute morgen in der Kirche
traurig", sagt die Tante aus Königsberg. „Auf
allen Bänken die lebensfrilchen Kinder, die bei
der Prüfung rasche Antwort gaben. Und unter
ihnen unsere Kranke, stumm und geduckt. Sie
hörte nichts, man fragte sie nichts. Sie konnte
sich kaum aufrecht halten, um an den Altar zu
schleichen."

Am Fenster steht der niedrige Kindertisd). Um
ihn herum sitzen die kleineren Buben und Mäd-
chen, die zur Verwandtschaft gehören. Gesunde
Geschöpfe, die viel Kuchen verzehren. Unter ihnen
die kleine Tochter der Darmstädter Tante. Weißes
Kleidchen, Wadenstrümpfe. Eie ist hübscher als
die anderen alle, ihr blonder Tituskopf mit schleu-
derndem Haar beugt sidi von einem zum anderen.

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Register
Erich K. Schmidt: Die Einsegnung
Gustav Petzoldt: Zierleiste
 
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