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Vielmehr so völlig ergraut und ehrwürdig, wie
eben eine ferne Erinnerung, auf der der Stand
der Jahre ruht. Kriegsstaub aus der Champagne,
dem Artois, den Argonnen und Vogesen — die
ganze Westfront beinah war beteiligt. Und das
Merkwürdige war, daß die Nadeln noch alle feft-
faßcn. Eie halten die zarten Gold- und Silber-
fäden, die die Kinder mit vieler Kunst burrl) dis
Zweige geschlungen hatten, treulich festgehalten.

Er entsann sich jetzt recht gut seiner Weisung
an Franz. Damals, vor zwei Jahren in der elen-
desten Lause-Champngne, war das Bäumchen eines
Tages vor Weihnachten angelangt, liebevoll ge-
wickelt und eingebunden wie ein Säugling im
Steckkissen, und die übclduftende ulte Bauern-
stube halte auf einmal ein neues Gestellt bekom-
nicn. Kleine Arbeiten der Kinder, kühne zeich-
nerische Versuche lagen bei.

Beim Quartierwechsel hatte Bölderndorff ge-
schwankt. Nur keinen unnützen Ballast mitschleppen.
Aber dann ging ihm eine abergläubische Regung
durch den Sinn. Steckte er den Baum in den
Ofen, so dauerte der Krieg gewiß noch übers
nächste Weihnachten hinweg. Nahm er ihn mit,
so gab es Frieden. Und so bekam Franz seinen
Auftrag.

Die elektrische Lampe zuckte und zitterte. Böl-
derndorfs drehte sie ab. Einen Stoß Meldungen
und Berichte schob er beiseite. Das hatte Zeit
bis morgen früh. Schweigend starrte er in die
kleinen roten Flammen der Kerzen. Sie malten
zierliche Arabesken und lebendige Schatten an
Wand und Decke. Ob sie jetzt daheim wohl bei
der Bescherung sind?

Ein feines Klingen und Summen wunderte
durch den Raum. Wie ferner Glockenton, der
mit leisem Fittich die Luft bewegte. Draußen
war es still. Nur dann und wann ein heiserer
Schrei der Lokomotive, das dumpfe Grollen eines
Transportzuges über die Brücke. Und wiederum
eine klingende Stille.

Sie schwoll und ebbte, ward ein rhythmischer
Akkord. Der Gesang des kreisenden Herzblutes,
dachte Bölderndorff und schloß die Augen. Tiefer
ward der Klang, zum harmonischen Doppelton
wuchs er auf. Kirchengeläut kam aus der Ferne.
Kinderstimmen fielen ein, bekannte liebe Stimmen,
hoch, hell und etwas zittrig.

Natürlich wieder zu hoch angefangen, dachte
er träumend. Und dann sah er sie stehen, alle
drei, in der offenen Türe, während im Hinter-
gründe prangend in goldenen Lichtern die große
grüne Edeltanne stand, die liebe Frau davor,
lächelnd, glanzumflosscn, von Festesfreude verklärt.

„Es ist ein' Ros' entsprungen" . . . sangen sie.
Aber nun hatte der Kleinste sein Schiff, sein rich-
tiges schönes Segelschiff entdeckt. Da war er nicht
mehr zu hallen und jauchzte hell auf. Die beiden
Großen traten ein wenig befangen näher und
trauten sich nicht recht, bis sie die Plätze und die
Grenzen heraus hatten. Auf einmal hatten sie
alle Hände voll zu tun

Friedevoll leuchtete und knisterte der grüneBaum.
Würziger Tannenduft zog durchs Zimmer....

Ein Knistern weckte Bölderndorff — er schaute
auf. Die Kerzen waren herabgebrannt, erloschen
bis auf eine, die ängstlich flackernd auf ihrem
Zweiglein saß und noch nicht sterben wollte. Schlicß-
lich starb auch sie.

Völderndorff drehte das Liclst an. Hatte er
geschlafen? Nur geträumt? Es war sonst nicht
seine Art. Was wollte er doch? Seinen großen
Bericht ausarbeiten, ja, das hatte er bori) seiner
Frau geschrieben, zur Abhärtung. Ach, Dumm-
heiten, ich will ihr lieber von meinem Weihnachts-
bnum berichten, dachte er. Und er begann:

„Wenn du wüßtest, wer eben am heiligen
Abend bei mir war, du würdest große Augen
machen. Ihr wäret bei mir, ihr allesamt. Es
war richtiger Geisterbesuch mit Glockcnton, Sphärcn-
klang, und wie die Pv'lcn das so herzurichten
pflegen. Der kleine Wechnuchtsbaum von anno
fünfzehn ist an dem ganzen Zauber schuld. Er
steht vor mir auf dem Tisch, wie eine Alraune

Richard Langner (München)

Aufstieg

Du hast mir, Gott, den Pfad nicht leicht gemacht;
Er ging durch wilden Dorn und schlimme Nacht.

Er führte lang au deinem Weg vorbei —

Ich wußte kaum, was Gott und Lebe» sei.

Doch durch das Dunkel, das nur stückweis wich,
Sucht' ich im Grund nur eitles: suchte dich.

llnd weil ich dich verzweifelnd fast gesucht,

Hast du im Buch des Lebens mich gebucht.

Leben beißt Kampf, und wie's im Blut mir lag,
Hab' ich gekämpft bis hin zu diesem Tag.

Doch da ich kampfend meine Welt durchschritt.
Fühlt' ich es wohl: ein andrer kämpfte mit.

lind als ich endlich An- und Aufstieg fand,

Spürt ich dich atmen, spürte deine Hand.

Nun sah ich Sonne, sah das freie Licht

Und trank den Sturm, der hell aus Osten bricht.

Im Sturm war Ewigkeit, im Sturm warst du,
In diesem Morgenstern war tiefste Ruh.

Nun dürft' ich Leben um mich auferbaun
Und, kampfesstill, in künst'ge Ernten schau».

Franz Lüdtke

*

nnzuschaun, und ich glaube fast, er kichert über
seine Machenschaften. Die Überraschung ist ihm
vollkommen geglückt. Die Frage, ob man Weih-
nachten feiern müsse oder nicht, ist für mich einst-
weilen entschieden: Ich habe gefeiert, tue es noch
und bin euch näher, als wenn ich mitten unter
euch säße. Du siehst, auch in diesem Kriegswinter
passieren nach Dinge zwischen Himmel und Erde,
von denen wir uns manchmal allerhand träumen
lassen. . . ." Hans Mclli»

Der Fremde

Ein Dritter-Klasse-Wagen des Schweizer
Schnellzuges war ganz mit Kindern besetzt, deut-
schen Kindern, die zur Kräftigung an den blauen,
weiten, bergumkränzten See kamen. Sie kannten
ihre Wohltäter nicht, aber sie fühlten in ihren
lauschenden Seelen die Wohltat. Zum ersten Mal
aus den. Bann der leidvollen Heimat entlassen —
zum ersten Mal nicht mehr im schweren, ernsten,
standhaften Baterlande — zum ersten Mai in
einem Lande, das den ungeheuren Krieg ntriit
führte.

Und etwas Anderes noch, das Beste vielleicht:
es waren lauter blaffe, still gewordene Stadtkin-
der, die nur ein Stückchen zug.meffenen Himmels
kannten, denen Wald und See verblichene Feier-
tags erinncrung geworden.

Das Beste? Nein — wer in den müden und
doch wach gespannten Augen lesen konnte, fand
die Wahrheit: Das Beste dieser Reise war nicht
das Friedensland, nicht Wald und See und
Gebirge — das Beste ihrer Hoffnung war die
Schokolade. Sie kamen ja in die Schweiz. Sie
kamen in ein Paradies, wo es noch Schokolade
gab. Schokolade ....

Das hatte man ihnen verheißen, und sie war-
teten darauf mit heißen Köpfen, mit zitternden
Zungen.

Die Meisten von ihnen hatten nur noch
eine schwache Erinnerung an den Geschmack
der braunen Süßigkeit. Wie etwas aus der
Fabelzeit schwebte es ihnen vor. Wenn cs nun
plötzlich auf sie zukam?

Schokolade? ....

Der Zug stampfte. Es war eine lange, heiße
Fahrt. Die kleinen, von Eindrücken umschwirrten
Köpfe wurden schläfrig.

Draußen hüllte Dämmerung das helle Schwei-
zer Land ein. Jetzt kamen Einige sogar von
der Schokolade ab; sie dachten an ihre Lieben
daheim ....

Plötzlich — eine Station. Der Zug ruckte und
hielt Die Kinder reckten die Hälse, denn in den
Wagen kam noch ein erwachsener Reisender. Hatte
er anderswo keinen Platz gefunden — oder suchte
er gerade diesen Wagon auf?

Lächelnd schab er sich durch den schmalen Gang
und hielt Umschau, wo noch ein Plätzchen übrig
war. . Endlich hatte er es gefunden. Er ließ sich
zwischen den Kindern nieder. Sic duckten sich
unwillkürlich. Es war ein ganz sonderbarer Be-
such — das fühlten alle. Der hohe, hagere Mann
mit dem edlen, bleichen Gesicht und den dunklen
Augen, die ein mildes Feuer hatten. Er glich
mit feinem Stab und seinem breiten Hut und dem
weiten, faltigen Mantel einem Wanderer aus ver-
sunkener Zeit. Er hatte ein schweres Bündel an,
Rücken — das setzte er nun ab und hielt cs vor
seinen Knieen.

Er ließ einen dunklen Blick über die bangen
Kinder gleiten. Dann sprach er: „Ihr kommt
aus Deutsä>land? Ich iiebe eure Heimat. Ich
liebe sie trotz allem und sage es, wo es gilt."

Die Kinder rückten ihm näher. Seine Stimme
war wie edle Musik — sie wünschten alle, daß
er immer weiter spräche — sie liebten ihn alle
schon.

„Nun kommt ihr an den schönsten See. Berge
werden vor euch liegen, die ihr nie gesehen habt.
Im Walde werdet ihr wandern und singen und
tanzen und spielen. Ein Tag wird immer schöner
als der andere sein."

Die Kinder lauschten und nickten leise. Den-
noch — sie schämten sich — während der Fremde
all' das Schöne, das ihnen werden sollte, pries,
dachten sie wieder an Schokolade .... Davon
sprach der Fremde nicht.

Er schwieg. Es wurde dunkler draußen, dunk-
ler im Wagen. Eintönig stampfte der Zug.

„Nun seid ihr bald da. Nun wird der See
bald sichtbar werden,"

Schokolade . . .

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Richard Langner: Vignette
Georg Hirschfeld: Der Fremde
Franz Lüdtke: Aufstieg
 
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