Neujahrsnacht im Hafen
R. Fiedler (gefallen in Brügge)
das eine Kleinigkeit gegenüber dem, was wir
unseren Krieg nannten. Wie er endete? So
plötzlich, wie er begonnen hatte. Sozusagen schmerz-
los. Der Himmel nahm uns einfach die Gnade,
so barmherzig oder unbarmherzig, wie er sie uns
einst geschenkt hatte. Armut wurde wieder Reich-
tum. Revolution der Geister wurde wieder Stille,
selbständige Arbeit, Zufriedenheit. Und ich möchte
noch immer glauben, daß auch der augenblickliche
Zustand, unter dem wir alle zu leiden haben, eines
Tages so beendet ist. Sozusagen ganz schmerzlos."
Vater Mortier lächelte fast verklärt. So oft
es mir geschienen hatte, daß der Alte nicht ganz
richtig im Oberstübchen sein möge, eben mußte
ich ihn leisesten Herzens um Verzeihung bitten.
„Wir dürfen nur nicht glauben wollen, daß
wir nicht reich genug seien! Wir alle müssen in
unseren Grenzen bleiben — damals wie heute.
Dann ist das Glück ganz von selbst bei uns und
in uns."
*
Chlorcalcium
Ich las in der Zeitung: „Professor von Kalker
über die Steigerung der Lebenskraft durch Zufuhr
von CaCh .... Professor v. Kalker ist der An-
sicht, daß wir zu wenig Kalk zu uns nehmen und
daß wir durch regelmäßigen Genuß von Chlor-
ealcium — eine ungeahnte Energiesteigerung und
Vermehrung der ..."
Ich hatte genug. Ich bin Eklektiker. Ich re-
flektierte nur auf die Energiesteigerung. Ich dachte
mir, 50 g würden es für den Anfang wohl tun,
eilte zur nächsten Apotheke und verlangte Chlor-
ealcium. Man sollte täglich dreimal eine Messer-
spitze nehmen. Da es schon Abend war, als ich
mit meiner Energieschachtel zu Hause ankam, nahm
ich, um keinen Tag der Kur zu verlieren, gleich
3 Messerspitzen voll und, um nicht zu wenig zu
tun, noch einmal 2 Messerspitzen als Zugabe. Da
ich kein anderes Messer zur Hand hatte, benutzte
ich mein Rasiermesser. Daß ich mich hiermit
gräßlich verstümmelte, sei nur nebenbei erwähnt.
Dann legte ich mich harmlos zu Bett. In
der Nacht wachte ich von einem unheimlichen
Knacken auf. Ich lauschte. Was war das?! Es
knackte in allen meinen Gelenken. Es war eine
wahre Symphonie. Auf dem Orgelpunkt der Baß-
gelenke, wie Knie und Hüfte, tremolierten die
Hand- und Fußgelenke, kicherten die Finger-
gelenke und über dem Ganzen schwebte eine
schwermütige Melodie der Rückenwirbel.
Zweifellos wirkte das Chlorcaleium und ich
war entweder am Wachsen oder in einem Zu-
stande gründlicher Regeneration, der wie zu er-
warten, zunächst das Knochengerüst ergriff. Ich
ließ sie einstweilen konzertieren und schlief be-
friedigt wieder ein.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, traute
ich meinen Augen kaum. Ich erkannte mich zu-
nächst garnicht wieder. Ich war ein gutes Stück
größer geworden und hatte eine blühende Gesichts-
farbe bekommen. Haar und Bart hatten über
Nacht sagenhafte Dimensionen angenommen. Ich
konnte unmöglich in die Redaktion gehen, da
mir weder Schuhe noch Anzug mehr paßten.
Den Henkel der Wasserkanne: zermalmte ich
zu Staub und die messingne Türklinke blieb ver-
bogen in meiner Hand.
Ich verfluchte das Chlorcalcium. Es würde
mich zum Bettlermachen, wenn die Energiesteigerung
so weiter ginge, daß ich nichts mehr berühren
konnte, ohne es zu zertrümmern. Aus Angst, den
Fußboden durchzutreten, schlich ich auf den Zehen-
spitzen einher.
Um 11 Uhr klopfte es. Es war der Redaktions-
diener, der nach mir fragen wollte; als er mich
sah, sagte er, ich möge verzeihen, er hätte nicht
gewußt, daß Herr . . . ausgezogen sei. Ich war
wie vor den Kopf geschlagen. Dann überlegte
ich mir: er hatte mich nicht erkannt. Mittags
fühlte ich eine so unbezähmbare Tatenlust in mir,
daß ich, um mich zu besä,ästigen, 200 mal mein
Büffet stemmte, beim 198. mal allerdings un-
vorsichtigerweise bis in die obere Etage hinein,
wo es hängen blieb. Gut, daß die Etage nicht
bewohnt war!
Das brachte mich auf einen neuen Gedanken.
Ich telephonierte an die Wohnungsgesellschaft und
mietete das obere Stockwerk. Dann brachte ich
die Zeit bis zum Abend damit zu, in meiner
Wohnung sämtliche Decken und einige Zwischen-
wände einzubrechen, sodaß alle meine Zimmer
bedeutend größer wurden. Ich brauchte Bewegungs-
freiheit.
Trotz dieser Arbeit fühlte ich nicht die geringste
Ermattung, im Gegenteil, ich wurde immer frischer,
und nun fing das Chlorcalcium an, auch auf meinen
Geist zu wirken.
Eine unbezähmbare Arbeitslust überfiel mich.
Ich engagierte 10 Schreibmaschinenfräulein und
diktierte, in ein Bettuch gehüllt, dreien davon
je einen Roman, außerdem ein Werk über den
Staatssozialismus, einen Vorschlag zur industriellen
Verwertung aufgebrauchter Gummikragen, zwei.
Dramen, ein Essai über die Entwicklung des Poin-
tillismus, und lyrische Gedichte.
Das dauerte die ganze Nacht. Gegen Morgen
lagen mehrere der jungen Mädchen entseelt am
Boden und zwei Schreibmaschinen gingen in
Flammen auf.
Um 7 Uhr, als es hell wurde, rannte ich not-
dürftig bekleidet auf die Straße, um Beschäftigung
zu suchen. Ich hob zwei entgleiste elektrische
Straßenbahnen in die Schienen, trug ein totes
Pferd zum Abdecker, weil gerade niemand da
war, bewerkstelligte ganz allein zwei Umzüge und
machte einen gefunkenen Schlepper flott. In einer
Stunde war dies geschehen.
In der ganzen Stadt war nun keine Arbeit
mehr zu finden. Ich versetzte also den Haupt-
bahnhof, der mich schon immer mit seinem Qualm
und Lärm geärgert hatte, etwa 2 km weiter nach
dem Weichbild der Stadt zu. Das dauerte aller-
dings etwas länger und ich wurde einigermaßen
durch eine Unzahl Zuschauer behindert.
Ich wollte mich gerade, um meine schriftstellerische
Tätigkeit fortzusetzen, nach Hause begeben, als ich
mich von einer starken Militärabteilung um-
zingelt sah.
Ich vernichtete noch rasch etwa eine Kompagnie,
sah aber dann das Gefährliche meines Beginnens
ein und ließ mich abführen.
In welche Verlegenheiten mich später noch das
Chlorcalcium gebracht hat, will ich lieber nicht er-
zählen. Ich warne jeden davor!
Artur Wagner
iazv
R. Fiedler (gefallen in Brügge)
das eine Kleinigkeit gegenüber dem, was wir
unseren Krieg nannten. Wie er endete? So
plötzlich, wie er begonnen hatte. Sozusagen schmerz-
los. Der Himmel nahm uns einfach die Gnade,
so barmherzig oder unbarmherzig, wie er sie uns
einst geschenkt hatte. Armut wurde wieder Reich-
tum. Revolution der Geister wurde wieder Stille,
selbständige Arbeit, Zufriedenheit. Und ich möchte
noch immer glauben, daß auch der augenblickliche
Zustand, unter dem wir alle zu leiden haben, eines
Tages so beendet ist. Sozusagen ganz schmerzlos."
Vater Mortier lächelte fast verklärt. So oft
es mir geschienen hatte, daß der Alte nicht ganz
richtig im Oberstübchen sein möge, eben mußte
ich ihn leisesten Herzens um Verzeihung bitten.
„Wir dürfen nur nicht glauben wollen, daß
wir nicht reich genug seien! Wir alle müssen in
unseren Grenzen bleiben — damals wie heute.
Dann ist das Glück ganz von selbst bei uns und
in uns."
*
Chlorcalcium
Ich las in der Zeitung: „Professor von Kalker
über die Steigerung der Lebenskraft durch Zufuhr
von CaCh .... Professor v. Kalker ist der An-
sicht, daß wir zu wenig Kalk zu uns nehmen und
daß wir durch regelmäßigen Genuß von Chlor-
ealcium — eine ungeahnte Energiesteigerung und
Vermehrung der ..."
Ich hatte genug. Ich bin Eklektiker. Ich re-
flektierte nur auf die Energiesteigerung. Ich dachte
mir, 50 g würden es für den Anfang wohl tun,
eilte zur nächsten Apotheke und verlangte Chlor-
ealcium. Man sollte täglich dreimal eine Messer-
spitze nehmen. Da es schon Abend war, als ich
mit meiner Energieschachtel zu Hause ankam, nahm
ich, um keinen Tag der Kur zu verlieren, gleich
3 Messerspitzen voll und, um nicht zu wenig zu
tun, noch einmal 2 Messerspitzen als Zugabe. Da
ich kein anderes Messer zur Hand hatte, benutzte
ich mein Rasiermesser. Daß ich mich hiermit
gräßlich verstümmelte, sei nur nebenbei erwähnt.
Dann legte ich mich harmlos zu Bett. In
der Nacht wachte ich von einem unheimlichen
Knacken auf. Ich lauschte. Was war das?! Es
knackte in allen meinen Gelenken. Es war eine
wahre Symphonie. Auf dem Orgelpunkt der Baß-
gelenke, wie Knie und Hüfte, tremolierten die
Hand- und Fußgelenke, kicherten die Finger-
gelenke und über dem Ganzen schwebte eine
schwermütige Melodie der Rückenwirbel.
Zweifellos wirkte das Chlorcaleium und ich
war entweder am Wachsen oder in einem Zu-
stande gründlicher Regeneration, der wie zu er-
warten, zunächst das Knochengerüst ergriff. Ich
ließ sie einstweilen konzertieren und schlief be-
friedigt wieder ein.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, traute
ich meinen Augen kaum. Ich erkannte mich zu-
nächst garnicht wieder. Ich war ein gutes Stück
größer geworden und hatte eine blühende Gesichts-
farbe bekommen. Haar und Bart hatten über
Nacht sagenhafte Dimensionen angenommen. Ich
konnte unmöglich in die Redaktion gehen, da
mir weder Schuhe noch Anzug mehr paßten.
Den Henkel der Wasserkanne: zermalmte ich
zu Staub und die messingne Türklinke blieb ver-
bogen in meiner Hand.
Ich verfluchte das Chlorcalcium. Es würde
mich zum Bettlermachen, wenn die Energiesteigerung
so weiter ginge, daß ich nichts mehr berühren
konnte, ohne es zu zertrümmern. Aus Angst, den
Fußboden durchzutreten, schlich ich auf den Zehen-
spitzen einher.
Um 11 Uhr klopfte es. Es war der Redaktions-
diener, der nach mir fragen wollte; als er mich
sah, sagte er, ich möge verzeihen, er hätte nicht
gewußt, daß Herr . . . ausgezogen sei. Ich war
wie vor den Kopf geschlagen. Dann überlegte
ich mir: er hatte mich nicht erkannt. Mittags
fühlte ich eine so unbezähmbare Tatenlust in mir,
daß ich, um mich zu besä,ästigen, 200 mal mein
Büffet stemmte, beim 198. mal allerdings un-
vorsichtigerweise bis in die obere Etage hinein,
wo es hängen blieb. Gut, daß die Etage nicht
bewohnt war!
Das brachte mich auf einen neuen Gedanken.
Ich telephonierte an die Wohnungsgesellschaft und
mietete das obere Stockwerk. Dann brachte ich
die Zeit bis zum Abend damit zu, in meiner
Wohnung sämtliche Decken und einige Zwischen-
wände einzubrechen, sodaß alle meine Zimmer
bedeutend größer wurden. Ich brauchte Bewegungs-
freiheit.
Trotz dieser Arbeit fühlte ich nicht die geringste
Ermattung, im Gegenteil, ich wurde immer frischer,
und nun fing das Chlorcalcium an, auch auf meinen
Geist zu wirken.
Eine unbezähmbare Arbeitslust überfiel mich.
Ich engagierte 10 Schreibmaschinenfräulein und
diktierte, in ein Bettuch gehüllt, dreien davon
je einen Roman, außerdem ein Werk über den
Staatssozialismus, einen Vorschlag zur industriellen
Verwertung aufgebrauchter Gummikragen, zwei.
Dramen, ein Essai über die Entwicklung des Poin-
tillismus, und lyrische Gedichte.
Das dauerte die ganze Nacht. Gegen Morgen
lagen mehrere der jungen Mädchen entseelt am
Boden und zwei Schreibmaschinen gingen in
Flammen auf.
Um 7 Uhr, als es hell wurde, rannte ich not-
dürftig bekleidet auf die Straße, um Beschäftigung
zu suchen. Ich hob zwei entgleiste elektrische
Straßenbahnen in die Schienen, trug ein totes
Pferd zum Abdecker, weil gerade niemand da
war, bewerkstelligte ganz allein zwei Umzüge und
machte einen gefunkenen Schlepper flott. In einer
Stunde war dies geschehen.
In der ganzen Stadt war nun keine Arbeit
mehr zu finden. Ich versetzte also den Haupt-
bahnhof, der mich schon immer mit seinem Qualm
und Lärm geärgert hatte, etwa 2 km weiter nach
dem Weichbild der Stadt zu. Das dauerte aller-
dings etwas länger und ich wurde einigermaßen
durch eine Unzahl Zuschauer behindert.
Ich wollte mich gerade, um meine schriftstellerische
Tätigkeit fortzusetzen, nach Hause begeben, als ich
mich von einer starken Militärabteilung um-
zingelt sah.
Ich vernichtete noch rasch etwa eine Kompagnie,
sah aber dann das Gefährliche meines Beginnens
ein und ließ mich abführen.
In welche Verlegenheiten mich später noch das
Chlorcalcium gebracht hat, will ich lieber nicht er-
zählen. Ich warne jeden davor!
Artur Wagner
iazv