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Das Lachen

Von Helene Voigt-Oiederichs

In der Stadt hak es geheißen, daß Leute aus der Ukraine zurückkommen.
Oder sonstwo da unten her. Die Frau denkt: Vielleicht ist meiner dabei!
und schleppt ihren schweren gesegneten Leib zum Bahnhos.

Wird aber gar kein Zug erwartet. Niemand weiß etwas. Alles bloß
Gerücht. Die Frau fragt einen Unteroffizier, der wehrt mit der Hand —
sie soll ruhig nach Hause gehen. In einem halben Jahr vielleicht, wenn
wir dann noch leben und gesund sind.

Viel Hoffnung hat die Frau nicht mitgebracht. Und darum ist sie auch
nicht viel enttäuscht. Aber irgendwas ist doch ärmer in ihr, als sie durch
den kalten trockenen Maitag nach Hause zurücksindet.

Zu ihren sechs Kindern wird dieses das siebente. Im ersten Kriegsjahr
find die Zwillinge geboren, vor achtzehn Monateit Bernhard, der jetzt
gerad so weit ist, daß er allein auf die Straße will. Zu beiden Wochen-
betten hat August Urlaub gehabt. Außerdem dann zuletzt, kurz vor dem
Waffenstillstand, im September noch. Dieses da, das hätte ihnen ja nicht
passieren dürfen. WennS nur wenigstens ein Mädchen wird. Man siehts
ja an Marthchen, zehn Jahre ist sie und übernimmt schon vieles im Haus.
Wird auch ohne Zank mit de» Brüdern fertig, die fchliunue Bengels sind.
Da hat fünf Jahre der Vater gefehlt.

Die Mutter geht hin, lächelt, freut sich über Marthchen, stockt so wunder-
lich. Im selben Augenblick schweigt das Lächeln. Das Kind war so still im
HauS heut früh? Stand nicht auf; als es dann aufgestanden war, saß eS
am Ofen, grub die Fäuste unter den Hals. Die Mutter wollte schon fragen,
hatS über der Haft, vom Haufe los zum Bahnhos zu kommen, vergessen
gehabt. Nun ist die Frage wieder da. Die Mutter geht rückwärts in ihren
Gedanken, geht auf gestern und vorgestern, sucht ein einziges Lachen und
sindet es nicht. Es krallt ihr nach dem Herzen, daß sie gesehen, lote das Kind
nie mehr stoh war, eigentlich feit Ostern schon, und daß sieg heut zum
erstenmal richtig iveiß. Warum kann Marthchen nicht mehr lachen? Zuviel
Arbeit — andere Kinder haben nicht soviel. Aber das ist es nicht allein.
Bloß von Arbeit wird ein Gesicht nicht so spitz und klug.

Die Mutter bleibt nicht gern stecken in einer Not, sindet sich immer hin
zu was. Es kommt ihr: sie kann zur Lehrerin gehen, gleich heut nachmittag.
Vielleicht, daß Marthchen diesen Sommer mit ausö Land darf.

Da ist die trübe Ouergasie, dag alte, im Unterbau vorsinkende Haus.
An der Tür gleich rechts im Erdgeschoß ist der Drücker abgebrochen. Die
Mutter schlägt ans Holz. „Mach auf!" Nichts rührt sich. Die Mutter klopft
stärker. Da schrillt ein Wimmern her. Die Kleinen liegen hinten in der
Kammer und schlafen, wer weint denn hier vorn? Das ist kcins von ihren,
klagt ganz stemd — wie kommt das freniöe
Kind in die verschlossene Stube? Und
Marthchen, warum macht Marthchen
nicht auf?

Die Mutter zerrt den Kleiderrock hoch,
wickelt ihn um den Stumpf des Drückers,
ruckt und wackelt, endlich schnappt die
Tür zurück.

Stickig schlägt es heraus in den frischen
Tag. „Marthchen — um Gott, Mädchen,
wag hast du?" DaS Kind liegt auf dem
Fußboden, mit langen dünnen Ärmchen,
dag steckig glühende Gesicht von der herun-
tergewühlten Tischdecke halb bedeckt. Die
Augen sind offen, siirren, oberste sehen nicht.

DieMutker bückt sich, rührt das Kind an,
da stößt wieder dag stemöeWimmern hoch.

Hände und Füße fangen zu schlagen an.

Mit Mühe bringt die Mutter das
Kind aufs Sofa, rückt Tisch und Stuhl
davor. Die kalten Glieder sind jetzt still,
aber Ruhe ist nicht da. Fort und fort steigt
dag Wimmern. Kein Zuhören, keine Ant-
wort. Nur schwereres Wimmern, sobald
die Mutter stagt. — Die Mutter stört
zur Nachbarin. Die folgt rasch, stoh,-daß

man sie holt. Teilhaben weitet dag arme Leben. Sie wirst einen Blick
auf dag Kind, sieht am Hals die Pulse springen. „Ja," sagt sie, „die
hatS nicht gut, da muß der Doktor her."

Der Elfjährige, der mit den Brüdern von der Straße hereinkommt,
wird zum Arzt geschickt. Rennt atemlos, bringt nach einer halben Stunde
den Bescheid: „Der Doktor war nicht da, aber dag Mädchen hat es
ausgeschrieben."

Die Mutter wartet bis zum späten Abend. Das Kranke auf dem Sofa
schlägt und schreit, fährt.hoch und kennt die Stube nicht. Die Mutter ist
fast leblos, hak keinen Gedanken mehr, nicht einmal den, der all die letzten
Tage, bei jedem Stoß unter ihreni Herzen, kam und ging: „Windeln,
woher Windeln schaffen für das neue Kind? Sind ja noch die vier Handtücher,
aber wenn sie die zu Windeln nimmt, ist nichts mehr zum Abtrocknen . . .

Zwei Tage und zwei Nächte schreit das Kind, ohne daß der Arzt öa-
gewefen ist. „Er kommt nicht rum, da nimmt er zuerst die Schwersten!"
sagt entschuldigend das Mädchen, als die Nachbarin selber läuft. „Dies
hier ist aber auch schwer!" drängt die Nachbarin. Dag Mädchen zuckt
die Schultern.

Am dritten Morgen geht einer im HauS, der bei der Volkswehr ist,
in die Sprechstunde. Weicht nicht, bis er festen Bescheid hat. Das Herz der
Mutter blüht auf vor Hoffnung. Hilfe ist nah, alles wird gut fein. Schon
sindet zaghaft in der jungen Freude die alte Sorge um die Windeln Raum.

Das kranke Kind liegt immer noch in der Stube auf dem Sofa. Drinnen
in der Kammer klagt es zu sehr, selbst von hier aus hält es die Brüder
wach. Manchmal klagen die Zwillinge mit, aber öfters noch stellen sie sich,
äffen das Klagen nach und lachen hell dazu.

Die Mutter sucht ein reines Hemd, dreht das kranke Kind gegen das
Gassenlicht. Daß heiße Gesicht schaudert unter dem nassen Handtuch. Bös
stechen die Augen nach der Mutter. Die wills gut machen, zwängt gegen
die armen Fieberlippen das dickgefettete Weißbrot. Butter zum Brot, das
hat lange keines mehr gekannt. Die Kranke stenimt die Zähne zu, schlägt
nach dem Brot — als sieg nicht mehr sieht, jammert ste: „Hunger!"
schnappt wie ein geschwindes Tier nach den Händen der Mutter.

Es wird Abend.

Uni sechs Uhr kommt wirklich der Arzt, füllt mit feiner breiten Gestalt die
Stube, rührt fast an die Decke mit feinem Hut. Er tritt an das Sofa, schiebt
die Tücher zurück, drückt und fühlt am Bein. Das Kind wehrt mit Füßen
und Knien, seine Hände wollen schlagen, sinken heftig gegen das Herz.

Der Arzt will wissen, wie das Kind vor der Krankheit war. Fragt nach

Husten und Nachtschweiß. „Eg hat sich
ein Abszeß gebildet!" sagt er dann.

Er schreibt einen Schein, daß Marth-
chen wegen Operation in das Krankenhaus
ausgenommen werden soll. Flüchtig sieht
er an der Mutter hinauf, faßt halb gegen
den Hut und geht.

Die Mutter schickt den Elfjährigen weit
hinaus zu:» Krankenhaus, daß ein Wagen
bestellt wird. Walter kommt erst zurück,
als es dunkel wird, hat lange warten
müssen für die leere Auskunft. Dag Kran-
kenhaus hat keine Wagen da. Wenn der
Patient durchaus nicht gehen kann, muß
die Sanitätswache einen stellen. Hat aber
wahrfcheinlich alles Zeit bis morgen stüh.

Am morgen rennt Walter zur Sanitäts-
wache. Der Schein des Arztes wird ge-
prüft, dann heißt es: „Wir dürfen keinen
Wagen geben, weil nicht draufsteht, daß
die Krankheit nicht ansteckend ist."

Der Junge kommt nach Haus, soll
rasch mit dem Schein zum Arzt. Der aber
ist nicht mehr da, kommt erst gegen Mittag.
Da läuft die Nachbarin zur Wache, schwört,
daß nichts sei als ein Geschwür ain Bein, das

Der Einrufer

Ferd. Staegcr

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Helene Voigt-Diederichs: Das Lachen
 
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