WIEDERSEHEN
NOVELLE VON ROLF BRANDT
„_und es waren Kampf und viele Niederlagen, aber dann auch Erfolg in
diesen Jahren. Ich bin unabhängig von äußeren Bedingungen geworden, die da-
mals das Leben zuschnürten; man gewinnt nicht so viel damit, wie ich glaubte.
Immerhin, man ist nur von seiner eigenen Entscheidung abhängig, und das ist
schon eine Etappe auf dem Wege. Ich muß noch etwa acht Tage in Berlin bleiben,
dann bin ich frei - einen Oampferplah zur Rückfahrt habe ich noch nicht einmal
bestellt - und ich möchte Dich Wiedersehen. Ich kann davon nichts schreiben, wie
das war vor fünfzehn Iahren und wie es manchmal in diesen fünfzehn Iahren
war. Ich nehme an, daß Dir ein Wiedersehen recht ist. Ich schicke diesen Brief
über die Adresse Deiner Ettern, weil ich hoffe, daß sie noch in dem alten Hause
wohnen. Ich fahre hin, wo Du mich zu treffen wünschest. Ich kann nichts Anderes
schreiben als: Auf Wiedersehen! Herzlichen Händedruck. Robert."
Sie las den Brief zum zweiten Mal, den Brief, der ihren Mädchennamen
trug. „Ich nehme an, daß Dir ein Wiedersehen recht ist." Auf ihrem Gesicht war
ein weicher Schein, der die Linien auf den Wangen verwischte. Die Kinder lärm-
ten, es gab einen dumpfen Fall, Geschrei setzte ein, das die dünne Wand vom
Nebenzimmer zu durchschlagen schien Sie stürzte in das Zimmer. Die fünfjährige
Lotte war vom Sofa gefallen, der zehnjährige Georg hatte sie herabgestoßen,
der dreijährige Heinrich suchte auf das Fensterbrett zu klettern.
„Geh vom Fenster, Heinrich! Gehst du gleich vom Fenster! Komm Lottchen
du mußt nicht mit dem bösen Iungen spielen! So, so ... heile, heile Kätzchen ...
Georg, du gehst auf die Straße!"
„Ich habe keine Schuhe," sagte der Iunge patzig. „Die sind beim Schuster, und
der gibt sie nicht raus."
Sie nahm das Mädchen an die Hand und ging in die Küche. In der Schub-
lade des Küchenschrankes lag das Wirtschaftsgeld. Sie zählte. Achtundzwanzig
Mark und fünfzig Pfennige. Fünfzehn Mark wollte der Schuster für das Be-
sohlen haben. Fünfzehn Mark für ein Paar Kindersohlen! Wenn sie morgen Fett,
Mehl und Brot holte, machte das mindestens zwanzig Mark. Hans müßte Vor-
schuß nehmen. Oer Iunge müßte doch die Schuhe haben! Sie faßte sich mit
nervöser Bewegung an die Schläfen, denn vom Zimmer klang schon wieder durch-
dringendes Geschrei. Sie flog zurück. Heinrich weinte und hielt sich das Gesicht.
„Was hast du?"
„Georg hat mich geschlagen."
„Heinz hat mir die Tinte umgestoßen," schrie Georg empört.
Sie legte den Brief in die Schublade des Küchenschrankes, das einzige Fach,
das ihr unumschränkt gehörte und setzte sich in das Kinderzimmer. Ihre immer
noch schönen Augen hatten keine Tränen, aber um den Mund waren scharfe
Falten, und über die mageren Wangen zog sich das Netz der Spinne Zeit.
Am Nachmittag, kurz ehe ihr Mann nach Hause kam, telephonierte sie vom
Kaufmann an das Hotel, in dem er wohnte. Er war nicht dort. Ob etwas zu
hinterlassen sei. „Ia. Nein. Doch." Sie nannte ihren Namen.
„Der Herr ist eben gekommen," sagte der Portier.
Eine dunkle, lebendige Stimme war am Apparat. „Ach, Hella, wie ich mich
freue! Also, wann können wir uns sehen?"
Sie schlug ein Kaffee vor.
Er sagte: „Kann ich dich nicht abholen?"
„Nein. Unter keinen Umständen."
„In einem Kaffee kann man nicht sprechen, Hella."
„Ich werde dich abholen. Morgen um drei Uhr. Auf Wiedersehen."
Sie hängte eilig ab, denn der Kaufmann hatte schon mißbilligend gegen die
Scheiben des Derschlags gesehen, eine andere Dame wollte den Apparat auch
benützen und sie, Hella, war keine gute Kundin
Das Wetter hielt sich. Sie konnte die weißen Schuhe anziehen und ein Helles
Kleid. Sie rieb die Schuhe mit dem Kreidestein ab, sie sahen wieder ganz gut
aus. Als sie die Haare auflöste, sah sie ein paar graue Fäden. Gott, war sie denn
so alt? So alt! Ihre Hände sanken. Im Kinderzimmer war es still, denn der
Große war auf der Schule, die beiden Kleinen spielten mit Bauklötzchen. Sie
JULIUS CARBEN, f 50. APRIL 1920
fi90
V
NOVELLE VON ROLF BRANDT
„_und es waren Kampf und viele Niederlagen, aber dann auch Erfolg in
diesen Jahren. Ich bin unabhängig von äußeren Bedingungen geworden, die da-
mals das Leben zuschnürten; man gewinnt nicht so viel damit, wie ich glaubte.
Immerhin, man ist nur von seiner eigenen Entscheidung abhängig, und das ist
schon eine Etappe auf dem Wege. Ich muß noch etwa acht Tage in Berlin bleiben,
dann bin ich frei - einen Oampferplah zur Rückfahrt habe ich noch nicht einmal
bestellt - und ich möchte Dich Wiedersehen. Ich kann davon nichts schreiben, wie
das war vor fünfzehn Iahren und wie es manchmal in diesen fünfzehn Iahren
war. Ich nehme an, daß Dir ein Wiedersehen recht ist. Ich schicke diesen Brief
über die Adresse Deiner Ettern, weil ich hoffe, daß sie noch in dem alten Hause
wohnen. Ich fahre hin, wo Du mich zu treffen wünschest. Ich kann nichts Anderes
schreiben als: Auf Wiedersehen! Herzlichen Händedruck. Robert."
Sie las den Brief zum zweiten Mal, den Brief, der ihren Mädchennamen
trug. „Ich nehme an, daß Dir ein Wiedersehen recht ist." Auf ihrem Gesicht war
ein weicher Schein, der die Linien auf den Wangen verwischte. Die Kinder lärm-
ten, es gab einen dumpfen Fall, Geschrei setzte ein, das die dünne Wand vom
Nebenzimmer zu durchschlagen schien Sie stürzte in das Zimmer. Die fünfjährige
Lotte war vom Sofa gefallen, der zehnjährige Georg hatte sie herabgestoßen,
der dreijährige Heinrich suchte auf das Fensterbrett zu klettern.
„Geh vom Fenster, Heinrich! Gehst du gleich vom Fenster! Komm Lottchen
du mußt nicht mit dem bösen Iungen spielen! So, so ... heile, heile Kätzchen ...
Georg, du gehst auf die Straße!"
„Ich habe keine Schuhe," sagte der Iunge patzig. „Die sind beim Schuster, und
der gibt sie nicht raus."
Sie nahm das Mädchen an die Hand und ging in die Küche. In der Schub-
lade des Küchenschrankes lag das Wirtschaftsgeld. Sie zählte. Achtundzwanzig
Mark und fünfzig Pfennige. Fünfzehn Mark wollte der Schuster für das Be-
sohlen haben. Fünfzehn Mark für ein Paar Kindersohlen! Wenn sie morgen Fett,
Mehl und Brot holte, machte das mindestens zwanzig Mark. Hans müßte Vor-
schuß nehmen. Oer Iunge müßte doch die Schuhe haben! Sie faßte sich mit
nervöser Bewegung an die Schläfen, denn vom Zimmer klang schon wieder durch-
dringendes Geschrei. Sie flog zurück. Heinrich weinte und hielt sich das Gesicht.
„Was hast du?"
„Georg hat mich geschlagen."
„Heinz hat mir die Tinte umgestoßen," schrie Georg empört.
Sie legte den Brief in die Schublade des Küchenschrankes, das einzige Fach,
das ihr unumschränkt gehörte und setzte sich in das Kinderzimmer. Ihre immer
noch schönen Augen hatten keine Tränen, aber um den Mund waren scharfe
Falten, und über die mageren Wangen zog sich das Netz der Spinne Zeit.
Am Nachmittag, kurz ehe ihr Mann nach Hause kam, telephonierte sie vom
Kaufmann an das Hotel, in dem er wohnte. Er war nicht dort. Ob etwas zu
hinterlassen sei. „Ia. Nein. Doch." Sie nannte ihren Namen.
„Der Herr ist eben gekommen," sagte der Portier.
Eine dunkle, lebendige Stimme war am Apparat. „Ach, Hella, wie ich mich
freue! Also, wann können wir uns sehen?"
Sie schlug ein Kaffee vor.
Er sagte: „Kann ich dich nicht abholen?"
„Nein. Unter keinen Umständen."
„In einem Kaffee kann man nicht sprechen, Hella."
„Ich werde dich abholen. Morgen um drei Uhr. Auf Wiedersehen."
Sie hängte eilig ab, denn der Kaufmann hatte schon mißbilligend gegen die
Scheiben des Derschlags gesehen, eine andere Dame wollte den Apparat auch
benützen und sie, Hella, war keine gute Kundin
Das Wetter hielt sich. Sie konnte die weißen Schuhe anziehen und ein Helles
Kleid. Sie rieb die Schuhe mit dem Kreidestein ab, sie sahen wieder ganz gut
aus. Als sie die Haare auflöste, sah sie ein paar graue Fäden. Gott, war sie denn
so alt? So alt! Ihre Hände sanken. Im Kinderzimmer war es still, denn der
Große war auf der Schule, die beiden Kleinen spielten mit Bauklötzchen. Sie
JULIUS CARBEN, f 50. APRIL 1920
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