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Die psychologische Rasier- und Frisierstube

Groteske von Hanns Lerch

Der Laden im Erdgeschoß des Hauses Portlandstraße 56 stand be-
reits seit einem halben Jahre leer.

Es fand sich kein Mieter.

Die Straße war zu unbelebt, der Mietpreis vielleicht auch zu hoch.
Die Bewohner hatten sich schon so an den Anblick der gähnenden trüben
Schaufensterscheiben gewöhnt, daß sie es als ungeheure Überraschung
empfanden, als eines Morgens in dem einen Fenster ein breiter Lein-
wandstreifen prangte, dessen große, knallig rote Buchstaben folgendes
schrieen:

„Emanuele Lavroso ~-psychologische Rasier- und Frisier-
stube -hier werden Wünsche rasiert und Seelen neu aufgekämmt

-in der ersten Woche kostenlose Behandlung-

Verschiedene Arbeiter, die des Morgens zur Fabrik gingen, buch-
stabierten, gafften, blickten erstaunt auf das geputzte Schaufenster, in dem
vor einem grellroten Vorhang mit Flammenmuster ein Totengerippe

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Roß-Tränke


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stand, dessen Kopf durch irgend eine mechanische Einrichtung hin- und
herbewegt wurde-.

Eingehender jedoch - schon aus Berufsinteresse - beschäftigte sich
mit der Inschrift und der Aufmachung der Berichterstatter für örtliche
Angelegenheiten, Jeremias Kupfergießer, von den „Neuesten Nach-
richten". Und schließlich hatte er die Klinke in der Hand und trat ein.
Lavroso selbst trat ihm entgegen.

Der war ein kleines verhutzeltes Männchen, trug eine Riesenbrille
und hatte einen weißen Arztemantel mit dunkelvioletten Armelauf-
schlägen an. „Was wünschen der Her-r?"

„Ich möchte-ich möchte-"

„Nun-V ermunterte Lavroso freundlich.

„Ich möchte sehen, was hier los ist."

Lavroso gefiel sich in folgender Pose: er lehnte sich an einen Frisier-
ftuhl, verschränkte die Arme über der Brust und sprach sodann gewichtig:

„Sie befinden sich in einer seelischen
Rasierstube, mein Herr."

„Wie ist das zu verstehen?" fragte
Kupfergießer.

Lavroso lächelte leicht:

„Die Wünsche des Menschen gleichen
seinen Bartstoppeln — man kann sich
täglich rasieren lassen und doch wach-
sen sie täglich wieder nach. Umge-
kehrt behandle ich die Bartstoppeln
des Menschen als seine Wünsche, d. h.
diejenigen Wünsche, die nicht erfüllt
werden, rasiere ich mit den Bart-
stoppeln so, daß zwar die Bart-
stoppeln, aber nicht die Wünsche
wieder wachsen — "

Kupfergießer wurde es unheimlich
zu Mute. Er schwieg.

Lavroso fuhr gleichmütig fort:
„Bitte, äußern Sie irgend einen un-
erfüllbaren Wunsch, der Sie unzu-
frieden und ruhelos macht, weil Sie
ganz genau wissen, daß er nie erfüllt
werden wird..."

Der, Berichterstatter dachte nach,
lange, räusperte sich und sagte dann
, langsam:

„Einer meiner Lieblingswünsche war
es, Millionär zu sein — "

„Hm," meinte Lavroso, „eigentlich
immer noch bescheiden — bitte, neh-
men Sie Platz."

Kupfergießer setzte sich.

Lavroso plätscherte in irgend einer
Ml IfiTTii Flüssigkeit, brachte einen Seifennapf

und begann die Stirnpartie des Be-
richterstatters einzuseifen. Merkwür-
digerweise sah der Seifenschaum blut-
rot aus.

„Bitte, sehen Sie in meine Augen,"
rief Lavroso und schwang ein riesiges
Rasiermesser. Fast wider seinen Wil-
len folgte der Berichterstatter dem
Geheiß. Vor seinen Blicken ver-
schwommen die Gegenstände, dann
auf einmal sah er in deutlichster Klar-
? heit einen prallen großen Geldsack,

der in ein Nichts zerfloß. . . .

G e o r g e G a s c o y,1 e m Kupfergießer wieder zur Besin-


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Hanns Lerch: Die psychologische Rasier- und Frisierstube
George Gascoyne: Roß-Tränke
 
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