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DIE ERKENNTNIS

VON NORBERT JACQUES

q „Hujo!!!" Aber der See verfchlang zunächft den Ruf in feiner Frohen ein-
samen Fläche.

«j „Hujo! Hujolll” Wie den vergeblichen Schrei eines Vogels im Ried ent-
führte die starke teilnahmlofe Fläche die böfen Laute.

q Ein Vogel schreit meinen Namen, dachte Hugo, das ist lustig. Es überkam
ihn bei der Übereinstimmung des Lauts in der Natur mit feinem Namen ein
tolles Gefühl der Zufammengehörigkeit mit dem See. Er warf Kopf und Brust
aufs Waffer, tanzte nach hinten mit den Beinen heraus, kreiselte herum,
peitfchte Ellbogen und Fäuste auf die Flut, tauchte den Mädchen zwischen den
zuckenden Beinen herum und trank mit den unter Waffer geöffneten Augen
die grüne Weite der Tiefe, wie
einen zum Herrn machenden Wein.

Die Natur gehorchte ihm. Die Mäd-
chen waren sein.

q Die drei Mädchen, die mit ihm
aus der Gondel ins Waffer gehüpst
waren, und ebenso wie er über die
gottverliehene, wie ein Weidenblatt
bereiste Haut kein andres Badekleid
gezogen hatten, quirlten durchein-
ander um ihn, wie um einen jungen
Gott.

q Er kam wieder hoch, dem nahen
Ufer zugewandt. Dort stand ein
Mann. Der hatte die Fäuste hoch.

Er brüllte: „Hujo! Hujoü"
q Der Junge hörte wieder den Ruf,
sobald er das Waffer aus den Ohren
hatte. Jetzt sah er den Mann. Die
Mädchen warfen steh mit Waffer.

Ihre nackten Leiber umfchnellten
steh mit gleitenden Sprüngen, geseg-
net vom Glanz des Himmels, über-
schimmert vom Schleier des grünen
Wassers. Sie sahen den Mann, der
rief, noch immer nicht, und vor Johlen
und Frusten hörten sie ihn auch nicht
q Aber Hugo erkannte ihn. Er warf ihm einen Jauchzer zu, denn es war
Herr Ludwig. - „Herr Ludwig 1 Herr Ludwig!!" schrie er.
q Da schauten die Mädchen hin.

q Hugo schwamm voran, ein Ritter, ein Heerführer der füsten nackten
Kindheit. Das Waffer umwallte den Zug, wie perlmuttrige Liebkosungen,
mit hüpfenden Farbenfchreien tiefster Lust. . . . Hochzeitszug fern hinter
den Bergen. . . .
q „Hujo! Du_Du!_"

q Hugo stiest mit den Knien auf den Sand, richtete feine Nacktheit ruten-
grad Herrn Ludwig entgegen. Hinter ihm tauchten die zwölfjährigen Nixen
empor; das Waffer prangte von ihren Brüstlein herab, wie Perlen an ölig
geschältem Holz.

q Da warf Herr Ludwig böse Augen vor. Sein Gesteht war so dunkel wie eine
Stallecke. Er stand da wie ein Tier, das die Kinder anzufallen bereit war.
q Der Knabe und die drei Mädchen rutschten ab aus ihrer Lust. Was war
geschehen derweil? Ein drohender Blick stand gegen ste, ein finsterer Willen,
und dann fiel der ganze hohe Glanz des Himmels ein über der silbernen
Schale des Sees.

q „Ist das erhört?! Ohne Badekleider zusammen im Waffer steh wälzen!
Wie die Schweine! Puh! Hol die Gondel! Rasch! Ihr .. . ins Gebüsch! Da!
Ich fag’s euren Eltern!"

q Dann warf er die Kleider in die Sträucher, als die Gondel mit Hugo kam.
Sie zogen (ich an. Herr Ludwig stellte (ich zwischen Hugo und das Gebüsch
wie eine schwarze Wolke, und Hugo zog (ich im Kahn an Die Lust war
fchmeier und schwer. Fern fort ging ihr Glanz,
q „Fahrt heim! Gleich!”

q Hugo ruderte. — Lebten ste noch . . . die vier Kinder, vier Gestalten und
nur ein Haufen Zufammengetretnes in einer kleinen Gondel, die schwankte.
Wenn Hugo die Gondel umwirst, brauchen ste nicht nach Haus, hört alles
auf, endigt alles still in der Dunkelheit dieser Stunde, in die ste wie in
eine Wildgrube gefallen waren.

q Hugo ruderte. Seine Gedanken verfielen in den Bewegungen feiner
jungen Arme.

« . .. dann lästt man ste ruhig unten liegen. Dann brauchen ste nie mehr

zu erwachen. Dann find ste unempfindlich gegen jedes Wort und gegen jede
Züchtigung. Unauffindbar sind ste dann. Die Stunde hört nie auf. Rudert Hugo
in den Tod? Wo wohnt der Tod? . ..

q Da lief das Boot vor dem Landhaus von Hugos Eltern auf den Sand. —
Drinnen im Haus stand Herr Ludwig. Er hatte die Faust höher erhoben; er
hatte das Aug schwärzer auf ste gerichtet. Gleich kam der Böse durch die
offne Glastür, aus Herrn Hugos Aug losgelaffen. Er kam sofort auf ste zu-
gefprungen. Sie liefen.

q Sie liefen eins hinter dem andern und dann durcheinander und suchten
Schutz. Wo? Wohin? Sie liefen in den Stall und die Scheune.

q In der Scheune und im Stall wohn-
ten nicht die Menschen, wohnten
Winkel, die verbargen, Schatten, die
bedeckten.

q Im Stall rochen die Pferde heist
und in füster Gärung,
q Niemand schien die Kinder zu
sehen.

q Sie kletterten ins Heu. Sie waren
mausftill aneinander gedrückt. Keins
wagte das andre anzuschauen. Auf
einer Burg fasten ste droben. Aber
wird nicht der Sockel auf einmal
einfchmelzen und ste vor die Men-
schen schwemmen, nackt, die Kleider
entrissen, die kleinen Küglein der
Brüste dem Böfen preisgegeben ...
die Seelen wurden in einen schwar-
zen See geworfen,
q Lang fasten ste da. Kein Laut kam
von austen; nur ab und zu wieherte
ein Pferd. Aber das Pferd war ein
Bruder. Das Pferd hatte auch keine
Kleider an. Doch ein bistchen hatte
es Kleider an. Sein Fell! Sogar das
Pferd, das nicht reden konnte, hatte
Kleider an, zu bedecken.. .
q Ihren Leibern ward es heister. Davon begann das Heu stark aufzudusten.
Es duftete den Schost der armen Erde wieder, von dem es entsprang. Aus
den Kanälen aller Halme, aus den Gefästen aller Blumen erwachte wieder
das Leben und pumpte die Düste herauf, die nach dem Süsten und Böfen in
jäh ineinander fallenden, (ich haschend versinkenden Bewegungen rochen,
q Maria fühlte in ihren Händen, als die Verzweiflung ste ihr in wildem Griff
übers Herz stürzte, die beiden Erhöhungen ihrer jungen Brust. Da wustte fie
ein wenig, was geschehen war. Da (chwomm ein Lichtchen den Strom ihres
früher als bei den drei andern reifen Bluts heran, und alles bei ihr löste (ich
in ein schmerzringendes Stöhnen auf.

q Nun begannen alle vier zu weinen. Das Heu ward nast von ihren Tränen
und duftete umfo stärker auf. Roch wie eine Mutter, fo warm, fo feucht, fo
alle Gerüche zwischen Himmel und Erde, zwischen Leben und Tod aus den
Gängen der Halme giestend.

q Als ste eine Weile geweint hatten, sagte Maria etwas gestillt: „Wir haben
nämlich eine Sünde getan!”

q Das Geheimnis errichtete (ich hoch um jedes, wie ein Gefängnis. Aber
durch die Mauern durch waren sie steh in einer fchwälenden Pein luftvoll
verbunden.

q Da gaben ste ihr Versteck auf. Der See lag bis ans Haus heran mit einem
Gesteht, das teilnahmslos lachte, aber in allen Fältchen, in jedem Glanz, in
allen fern hinlaufenden Buchten ein Verräter und Verführer war. Lockend
fang er. Süst fchalmeite er. Gleistend glättete er sich lang aus, wie ein Fell.
Die bittere Luft lag irgendwo auf ihm verborgen, wie ein dunkel glühender
korallener Apfel.

q Die Kinder gingen auseinander. Sie gelobten steh, nie mehr zu fehlen.
Sie waren älter geworden, aber schöner. Denn ste waren eingetreten in die
Grotte des Men(chfeins.

q Es ist noch zu berichten, dast Herr Ludwig seit jenem Tag das Haus der
Eltern Hugos nicht mehr betrat. Hugos Mutter hatte nämlich aus ihrem
Fenster die Kinder heimkommen und zum Heu flüchten sehen, und als
Herr Ludwig dann mit feinem Bericht kam, empörte steh die Mütterliche
fo gegen ihn, dast ste zu ihm sagte, er komme ihr vor wie ein alter böser
Kakadu, vor dessen Schnabelhieben die Kinder geschützt werden müstten.

E LINKENBACH

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Norbert Jacques: Die Erkenntnis
E. S. Linkenbach: Festtag
 
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