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LIEBSEELCHEN

VON H. STEINITZER

Liebseelchen war natürlich dach was man „unsäglich rührend" nennt. Weil sie
so gar nichts von der Welt wußte: der schnöden, kalten, grausamen, berechnenden
Welt. Wenn sie einen mit ihren großen, grauen Augen anblickte, die bei künst-
lichem Licht blau aussahen - von jener unwirklichen Bläue, wie sie das Meer
unserer Sehnsüchte und Träume hat - dann fühlte man unabweislich: „Mir ist,

als ob ich die Hände-" oder, wenn einer ganz stark war, fühlte er wohl

auch nur Güte, einfache Güte, die nichts für sich begehrt und freudig alles opfern
möchte - gleichsam eine sich selbst verzehrende Güte - Güte, die - nun, eben
echte, wahre Güte. Zum Unterschiede von der falschen, die ungleich häufiger ist,
und deren Kennzeichen darin besteht, daß sie sich selbst betrügt und darum auch
gar keine wirkliche Güte ist.

So war Liebseelchen. Ihre Hände waren klein und fest. Jene Hände, von
denen jemand einmal sagte, er möchte ein Magengeschwür haben und von ihnen
operiert werden - wohlgemerkt ohne Narkose. Ein geschmackloser, aber für die
Hände Liebseelchens ungemein bezeichnender Wunsch. Ihre Gestalt glich der einer
wilden Waldblume, die vom Maienzephir leicht hin und hergeschaukelt wird. Oder
auch her und hin, wenn man will. Denn beim Schaukeln ist die Bewegung, nicht
die Dichtung, das Ausschlaggebende. Ging man zufällig hinter Liebseelchen her,
und betrachtete dabei ihre Füßchen, so vermeinte man zu schweben oder über den
Boden hin zu gleiten - jedenfalls verspürte man nichts mehr von der kläglichen
Mühseligkeit gewöhnlichen Gehens.

So war Liebseelchen. Wenn sie lächelte, fing alles zu tanzen an. Natürlich
nicht wirklich - oh über die beschämende Rohheit solcher Vorstellung! - es war
nur dem, der sie lächeln sah, so, als ob alles tanzte: Häuser, Bäume, Menschen,
Laternenpfähle, Droschkenpferde, Stehlampen, Klubsessel - kurz alles, auch wenn
seine sonstige Gemütsstimmung derartiger rhythmischer Betätigung durchaus ab-
geneigt war. Und nicht etwa Foxtrott wurde da getanzt oder Eakewalk oder einer
der vielen Steps, sondern Elfentänze, Sphärentänze - ein Huschen, Fliegen,
Aufundniedersteigen - etwas gewissermaßen Unirdisches, Außermenschliches,
unter keinen Umständen in Worte zu Fassendes-

So war Liebseelchen. So waren ihre Augen, ihre Hände, ihre Gestalt, ihre
Füße, ihr Lächeln - als Ganzes war sie ein Gedicht, eine Vision, ein tönender,
goldener Märchenspringquell — tausend Vergleiche, tausend Unzulänglichkeiten
- wozu schildern wollen, was nicht zu schildern ist-?

So war Liebseelchen

Als sie noch ein Kind war, pflegten ihre Tanten (sie hatte drei: Rosalie, Klara
und Iakoba) von ihr zu sagen: „Sie ist zu (Gebärde der Wehmut) für diese
Erde, sie wird früh sterben." Aber sie starb nicht, wenigstens nicht früh und erst
lange nach den drei wehmütig prophezeienden Tanten. Sie wuchs zu einer Jung-
frau heran daß ihre drei Onkel (Gottfried, Theobald und Anselm) schmatzten,
wenn sie nur von ihr sprachen und beim Hinsehen förmliche Stielaugen bekamen
wie gewisse Krustaceen (mit denen sie übrigens sonst keinerlei auffallende Ähn-
lichkeiten hatten). Liebseelchen küßte ihre Onkel und ihre Tanten. Sie legte
Unterschiede in diese Küsse. Von den Tanten bekam sie gestrickte und gehäkelte
Brust-, Puls- und Halswärmer und dicke Filzschühchen, von den Onkeln Pralinss,
Schmucksachen und seidene Unterröcke. Es gibt auch Unterschiede in den Ge-
schenken! —

Daß Liebseelchen zahlreiche Verehrer hatte, ist einleuchtend. Feder, der sie
sah, verehrte sie, mußte sie verehren, ob er wollte oder nicht. Es wollten aber
alle: die Dichter und Künstler, die Juristen, die Kaufleute und Fabrikanten, die
Offiziere und Gelehrten. Selbst der Hausmeister verehrte sie und sagte, wenn er
ihr die Tür öffnete: „Schönes Wetter heute," auch wenn cs wie mit Kübeln vom
Himmel goß. Denn beim Anblick Liebseelchens wurde auch das schlechteste Wetter
wunderschön und der graueste Himmel blitzeblank.

Liebseelchen ließ sich von Allen verehren und ohne Rücksicht auf Standesunter-
schiede. So war ihr Herz. „Eindrucksfähig," sagten die Psychologen,- „süß und
weich wie Buttermilch," meinten die Tanten; „kindlich und dankbar," behaupteten
die Onkel, „wie das Herz jener unbekannten Göttin des Ostens, von der man
nicht einmal den Namen weiß," erklärten die Philologen - und was die Dichter
darüber sagten, kann man nicht wiederholen, des Raummangels wegen, denn
das würde allein eine kleine Bibliothek ausmachen.

Einen von den Dichtern liebte Liebseelchen. Sie machte kein Geheimnis daraus.
Ihr Herz war trotz seiner vielen Eigenschaften klar wie Kristall „Ich liebe Sie,"
sagte sie zu ihm. „Wie schade, daß Sie ein Dichter sind. Dichter müssen von der
Sehnsucht leben, Erfüllung ist für sie der Tod. Ich wäre der Tod für Sie. Aber
Sie dürfen nicht sterben. Noch nicht. Sie müssen erst noch viele schöne Gedichte
auf mich machen. Unsterbliche Gedichte. Darin werde ich Ihnen angehören. Nur
Ihnen. Es ist unendlich viel, was ich für Sie tue. Aber Sie dürfen nun nicht
mehr so ost kommen, am besten gar nicht mehr, denn der Dichter schöpft seine
Krast aus der Sehnsucht. Leben Sie wohl - den ich in der Unsterblichkeit zu
lieben nie aufhören werde."

So war Liebseelchen. Kein Opfer war ihr zu groß und zu schwer, wenn es
das Höchste galt. Sie wußte um die Tore, die verschlossen bleiben müssen und
die heimlichen Pfade, die der Entsagung bedürfen, wenn sie nicht in die Irre
führen sollen ■-

Etwas später heiratete sie einen Bankier. Er war eigentlich kein richtiger
Bankier. Er nahm fast täglich an langen Sitzungen teil und bekam dafür viel
Geld. „Er arbeitet für mich," sagte Liebseelchen. „Arbeit ist Wohlstand, Volks-
vermögen, Gesundheit. Wer arbeitet, baut mit an der Allgemeinheit. Er schafft
für die Menschheit. Gültige Werte. Er befördert gleichsam den Blutkreislauf des
ganzen Volkskörpers, daß kein Krankheitsstoff eindringen kann. Weltwirtschafi!
Ich bin die Krast, die ein Rad treibt. Stände es still oder fiele es aus - wer weiß V

So war Liebseelchen. Ihr Geist ging mühelos stelle Wege. Wo Andere nur das
Nächstliegende sehen, sah sie darüber hinaus ins Allgemeine, Umfassende-

Bald darauf verlor der Bankier, der eigentlich kein Bankier war, das Geld,
das er verdient hatte und noch einiges dazu, das andere Leute verdient hatten.
„Armes Liebseelchen!" sagten die Menschen voll Teilnahme. „Du hast mich miß-
braucht," sagte Liebseelchen selber zu ihrem Manne. „Du bist ein Schädling.
Du hast übel an mir gehandelt. Beschmutzen wolltest du mich, aber ich verzeihe
dir." Und in ihren grünen Augen, die bei künstlichem Licht blau aussahen, schim-
merten echte Tränen gleich den Tautropfen in den Kelchblättern der Lotosblume.
„Unsere Wege müssen sich nun scheiden auf immer, damit ich rein bleibe. Denn was
wäre ich sonst?" Und sie nickte ihm liebreich zu, nahm an sich was ihr gehörte, und
ging mit beschwingten Schritten von dannen, als glitten ihre Füßchen über den Boden.

So war Liebseelchen Unbeirrbar im Urteil. In sich trug sie das Maß aller
Dinge. Wo ihre innerste Natur ein „nein" verlangte, da sprach sie es aus. Dazu
war sie imstande. Ohne Schwanken, Zögern und Straucheln.

So war Liebseelchen.

Nicht lange nachher heiratete sie einen Gutsbesitzer. „Erde ." sagte Liebseelchen,
und ihre Blicke gingen strahlend über das weite Land, das nun ihr Eigen war.
„Allmutter Erde, gibt es Herrlicheres, als dir zu dienen, aus deinem allge-
währenden Schoß die Frucht zu locken, du Urgrund des Lebens?!" Und hinge-
rissen von dem erhabenen Vorbild und sich erinnernd, daß das Gut ein Majorat
war, öffnete auch sie ihren blumengleichen Schoß, der noch nie geboren, und
schenkte dem Manne ihrer Wahl und ihres Herzens nach und nach in den üblichen
Zeiträumen drei blühende Kinder, von denen zwei Knaben waren, denn man
kann nie wissen, und doppelt genäht hält besser.

So war Liebseelchen. Weise und fürsorgend für alle Wechselfälle des Daseins.
Ihr Wille war stahlhart und vollbrachte, was geschehen mußte - eher mehr
als weniger.

Natürlich hatte Liebseelchen auch jetzt noch zahllose Verehrer. Aber sie waren
unvermögend, den Kristallspiegel ihres Herzens zu trüben. Sie nickte, lächelte
und winkte und ließ sich die Spitzen ihrer rosigen Fingerchen küssen - mehr nicht!
„Denn wozu?" dachte sie. „Es kommt nichts dabei heraus als Unruhe. Und außer-
dem habe ich ja, was ich brauche:"

So war Liebseelchen. Keusch und rein bis zu den Haarwurzeln. Oer trübe
Slrom der Leidenschaft floß an ihr vorüber, ohne auch nur ihre Zehen zu netzen.
Wäre Alexander der Große von den Toten wieder auferstanden und hätte um
sie geworben - vielleicht, möglicherweise, ja wahrscheinlich würde sie ihn, nachdem
sie von ihrem Gutsbesitzer rechtskrästig geschieden war, geheiratet haben, denn die
Ehrfurcht vor dem Großen war ihr durchaus nicht fremd — aber sie auch nur
einen Zoll von dem geraden Weg der Pflicht abzubringen, wäre auch Alexander
nicht imstande gewesen.

Go war Liebseelchen. Sicheres und Unsicheres hielt sie streng auseinander.
Was die Gemüter auch der Weisesten zuweilen in Verwirrung bringt, vermochte
die Geordnetheit ihres Wesens nicht zu erschüttern.

So war Liebseelchen.

Alle, die sie kannten oder gekannt hatten, liebten sie. Oie Tanten und Onkel
bewiesen es in ihren Testamenten, die Dichter durch unzählige ihr gewidmete ge-
reimte und ungereimte Strophen, der Bankier, der eigentlich keiner war, dadurch, daß
er sich erschoß, als sie von ihm ging, weil er ohne sie nicht leben konnte, der Guts-
besitzer, indem er die überschüssigen Zinsen des Majorats eifrig zu einem Witwen-
fonds sammelte, die Verehrer einfach dadurch, daß sie da waren und da blieben.

Und sie alle hatten recht, Liebseelchen zu lieben.

Wer hätte sie nicht lieben sollen: Liebseelchen mit den Märchenaugen, den
kleinen, unendlich rührenden Händen, dem schwebenden Gang, dem über alle
Maßen hinreißenden Lächeln, dem süßen, weichen, kindlichen, dankbaren, keuschen
und treuen Herzen, dem hochgemuten, durch nichts zu bestechenden Geiste, dem
unbeirrbaren Urteile, dem stahlharten Willen - und den tausend und abertausend
sonstigen Vorzügen (um nicht Qualitäten zu sagen).

Nur einen einzigen, kleinwinzigen Mangel hatte Liebseelchen - aber den be-
merkte niemand -: sie hatte keine Seele-

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Heinrich Steinitzer: Liebseelchen
 
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