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Heimtransport aus Sibirien Johannes Schult

oder verkleben Ihre Zimmer-, heißt Larackenecke mit den unmöglichsten
Bildern und gehen alle Kameraden um ernsthafte Kritik an, als ob es sich
um eine Wohnungseinrichtung handle.

Diese Zustände kommen auch sin Sie. Wir haben sie alle gehabt, und
bei den Ältesten ebben sie allmählich ab, kaum daß sie noch so als Quartals-
idiolie wieder auftauchen. Wenn Sie aber, mein Lieber, schon von heut
an sich in ernste Arbeit verbeißen, ohne zu wissen, in welchem Neuland
Sie leben, dann wird es ganz schlimm. Wir hatten auch solche Kameraden
Die sprachen das schöne Wort, daß nur sofortige, energische Arbeit vor
den Kindereien des Gefangenenlebenö bewahren könne. Ganz recht, aber
die, die vorsichtig herangingen, sich nicht gleich den Kopf mit Arbeit zu-
hängten, — kamen früher zu ihrer Lagerkrankheit, rissen sich ftüher am
Stachelzaun, kamen ftüher zu ihren schmerzhaften Erkenntnissen und halten
keine zerstörten Illusionen. Die Selbstsicheren aber und Arbeitgwackeren
packte es irgendwann einmal urplötzlich und warf sie ganz aus den Geleisen.

Vielleicht war es ein warmer Frühlingsmorgen. Man erging sich, wie
täglich, in Zirkelgängen um den Sportplatz. Wie lachte die Sonne! Kam
ein holdes Erinnern an einsi, als auch solche Sonne über Wald und Hügel
und Bachtal leuchtete. Und der Blick jauchzte über die Berglehne hin, wo
der Wald drüber her hing ivie ein molliges, warmes, gefüttertes Uni-
schlageluch, und wo das Vieh um die Farmen weidete und unten über
die Bachbrücke — ein Mädchen — schritt. ,Em Mädchen!' Die ganze
Luft wiegte sich in einen, Zauber. Flügel, heraus! — Mein ist die Welt,
und es ist — Lenz!

Da schellte die Glocke zum Zählen. Das war jeden Tag so gewesen.

El' hatte oft einen Segen darin empfunden, so einen Segen der Regel-
mäßigkeit in der Unterbrechung der Stunden u,ld war gegangen. Wie oft
hatte er sich inticrlich über das Namenlesen der Engländer erheitert und
hatte unberühtt wieder an die Arbeit gehen können. Aber nun? Was sollte
der Zwang? Seine Seele wanderte drüben auf den junggrünen Bergen
im Sonnenglanz.

Wie schrill das Läuten ist! Es zerrt durch den Klang so ein herrisches
Befehlen! — Wohin eilen all die Kameraden?

Seine Seele zuckt zusammen und flattert wie flügellahm daher und
kommt an das Lager und sieht mit einem Mal den Posten mit blankem
Bajonett. Nie sah er den bisher. Sie will eilends an ihm vorüber. Ruck!
Da hängt sic zwischen Stacheln und reißt sich blutig und muß doch her
und martert sich über zwei hohe Zäune und durch ein Gewirr dazwischen-
liegender Drähte, bis sie ermattet drinnen ist.

Von dem Tag an ist die stolz angefangene Arbeit an einer Stelle
brüchig geworden.

Deshalb, mein Lieber, nicht gleich in die volle Arbeit hinein; erst etwas
dämmern! Watten Sie ruhig, bis Ihre Bücher aus der Heimat da sind.
Lesen Sie UnterhaltungSleklüre, skizzieren Sie, wenn S>e so etwas können,
spielen Sie, schlafen Sie auf Vorrat, gewöhnen Sie sich an die Wirk-
lichkeit dieses Lebens vorsichtig, wie mau ein Pferd gewöhnt.

Und wenn Sie sich über dieses Dasein keine Illusionen mehr machen,
dann in den Sattel ernster Arbeit.

Dann soll es ein starkes Reiten geben, der Morgendämmerung unseres
späteren deutschen Lebens zu!"

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Johannes Schult: Heimtransport aus Sibirien
 
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