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ante's hochpittoreske Geflalt, wie Jie etwa am Schluffe der,Hochzeit
des Mönchs‘ die fackelhelle Treppe langfam emporfteigi, galt und
gilt der Epoche, an deren Eingang fic fieht, als das Prototyp feherifchen
Dichtertums. Wir fühlen heute, daß diefe Epoche, die humaniftifche, die
zugleidi die bürgerlidie und liberale war, im Ausklingen begriffen ift.
Wieviel von dem, was wir Bildung, was wir Menfchlidikeit nannten, fidi
unter der Sonne des anbredienden Tages noch vorfinden wird, ift zweifel-
haft. Aber im Zwielidit der Zeiten flehend, blicken wir mit neuer Schick-
falsffmpathie auf des Florentiners ferne und feierliche Figur, die, zwi-
fihen Scholaftik und Erkenntnis,zwiflhen clermyftifchen Führerin Beatrice
und Vergil, dem famoso saggio, ebenfalls von einem folchen doppelten

Lichte umfloffen ift. Sollte aber Freiheit, foltte das Individuelle, die Per-
fönlichkeit jegtals aufhören, das hödifte Glück der Erdenkinder zu fern,
fo wird doch ewig fie, die bedeutende Perfönlichkeit es fein, in deren
Bruft die Wandlungen und Übergänge des Zeitgeiftes - nicht leicht, nicht
frech, fondern notvoll, unter Gewiffenskämpfen und frommen Hem-
mungen, auf einzig würdige wie einzig entfdieidende Art fidi abfpielen.
Daniel Geflalt fei uns ein Symbol der Ehrfurcht und der Verach-
tung: der Ehrfurcht vor Tod und Erneuerung und der Verachtung
bübifch - gedächtnislofer Barbarei, — idi meine: jener fuiuriftifchen
Petroleurs, welche, einer Zukunft zu Ehren, die fie nicht kennen wird,
nichts befferes zu tun wiffen, als die Vergangenheit zu fchänden.

THOMAS MANN

L ETZTER GANG

VON HANS REISIGER

Schwerer Juniabend glühte über den Brücken von Florenz mit dunklem
Golde, in deffen regungslose, alle Dinge enger zusammenrückende Klarheit
aus grober Ferne über dem weftlich verfchimmernden Bande des Arno die
gelben Berge von Carrara leuchteten. Noch hielt die Nadiglut des heißen
Tages die Uferftraßen, den steinernen Flußmauern entlang, in Leere gebannt.
Hie und da huschte aus irgend einem Torbogen oder Fenster ein erstes
Mandolinenzirpen in die Stille als zaghafter Vorbote des vielstimmigen
Getöns und Singens, das jede florenfinifche Sommernacht durchrauschte.
Aus dem grünlichen Himmel, der über den Honigfarben der Stadt glomm,
warf als erster der aufgehenden Sterne der königliche Jupiter fein edles
Feuer, und nicht fern von ihm wurde der schwermütige, unheilvolle Saturn
soeben sichtbar.

Zu ihm blickten fpähend und prüfend unter scharfen Brauen die tief-
liegenden Augen des Mannes empor, der einsam und stillen Schrittes, die
Schultern leicht gebeugt, den Lung'arno daherkam, — große, dunkle Augen,
deren Ränder gerötet waren von vielem Weinen. Ein Gebahren leiden-
schaftlichen Ernstes beherrschte die Gestalt des kaum Fünfundzwanzigjährigen.
Und ein Anderes, Zwiefaches, im landläufigen Sinne Gegenläfzliches, hier
aber streng Vereintes: eine Hingegebenheit an innere Gesichte und zugleich
ein inbrünstiges Bewußtsein von dem Tun und den Umständen eines jeden
Augenblicks. Im Blick der Augen, in der Haltung des Kopfes, der Schultern,
der Hände, im Gang der Füße lag ein Lauschen auf die juft gegenwärtige
Konstellation der flüchtigen Minuten und Stunden des Erdenlebens und
feiner Erfdieinungen und ein Spähen
nach ihrer höheren Bedeutung imGeift.

Diefe schmalen, aber tiefroten Lippen
schienen sich in einem Zählen und Be-
rechnen lautlos zu bewegen, wie die
eines Astrologen, der dem dämonisch-
erhabenen Sinn der Zahlen und Zeit-
maße nachspürt. Und in der Tat war
es eine Zahl im Besonderen, deren
Zauber die Gedanken des still Schrei-
tenden nachhingen und deren Wesen-
heiten fie wie die Wände eines Kristalls
zufammenbaufen, die Zahl, die deut-
lich beherrschend über feinem Leben
stand: die hochheilige Zahl Neun.

Denn unter dem Zeichen der Neun
war jene Überschrift über dem Buche
feines Lebens aufgeleuchtet, vor der
alles Andere verblaßt war, jene drei
glühenden Worte, die seitdem wie die
Inschrift über dem Tore eines Tempels
strahlten: „Incipit Vita Nova!" Zum
neunten, zum dreimal dritten Male
hatte der Lichthimmel feinen großen
Kreislauf vollendet feit feiner Ge-
burt, da er, der also Neunjährige, zum
ersten Male der Herrin feiner Seele
begegnet war, die zu jener Zeit juft
soweit in ihrem Leben vorgeschritten
war, daß der Sternhimmel feit ihrer
Geburt fidi um den zwölften Teil
eines Grades nach Offen bewegt hatte,
also, daß auch fie im Anfang ihres
neunten Jahres ftand.

Wie ein üppiges, farbig ausgemaltes
Initiale zu diesem ersten Kapitel des
Buches feiner Erinnerung leuchtete je-
ner erste Maitag Anno Domini 1274 in
ihm, mit doppelter Inbrunst jetzt, da
er auf der Fährte des Todes schritt,
den Hauch witternd, mit dem der Grau-
same diefe selben Straßen, die zu dem

Haufe der Gesegneten führten, gestreift. Der Tag des ersten Mai im Haufe
des edlen Folco Portinari, — unvergeßlicher Frühlingstag, an dem die ganze
Stadt in einem Wirbel von Blüten und Freude schäumte, in den er, der
neunjährige Knabe, hineingeritfen wurde mit wankenden Sinnen, berauscht
von der erlesenen Würze der festlichen Speisen, von dem nichfendenden,
perlenden, summenden Wohllaut der Musik, von der strahlend verwobenen
Heiterkeit Aller und von dem Blau, Blau, Blau des unermüdlichen, jugend-
starken Himmels, das tief an die goldbraunen Wandungen, Wölbungen und
die rötlichen Fliesen des Haufes und feiner reichen Höfe und Gärten quoll.
Oh und von dieser Sprache, die ihm fo herrlich klang, aus Mündern schöner
Frauen und edler Männer, und in der etwas lag, was an fein Knabenherz
schlug mit unbegriffener Sehnfuchtskralt, wie ein Gedränge unerlöfter Schätze,
etwas, deffen vollste Herrlichkeit noch irgendwo im Dunkel der Ahnung
funkelte und lockte und wartete, - unfaßbar seltsam und schön. Toskanische
Sprache! Volkssprache! von keines Dichters Zauberhand noch berührt, —
herrlicher als alles gelehrte, geglättete, gekühlte Latein, — melodisch auf-
sprudelnd, wo immer die goldene Wünschelrute zuckte, die man in begna-
deter Hand trug! — Nun gebeugt und weinend trug.

Und da die neunte Stunde jenes fieberhaft-seligen Mailages lockend ge-
schlagen, war inmitten der abendgoldenen Kindertänze die Allerholdeste
feinen Augen erschienen. Hand in Hand mit feinem liebsten Knabenfreunde
- noch jetzt dem Teuersten, dem Dichter, - Guido Cavalcanli zur Rechten,
der wiederum die reizende Primavera gefaßt hielt, und ihren Bruder zur

Linken, - fie, die Tochter des Haufes
Portinari, mit weichem Kosenamen
Bice, voller aber und stolzer mit dem
gesegneten Namen Beatrice genannt,
in die geliebtefte Farbe, Blutrot, ge-
kleidet, das zarte Kinderantlitz schon
voll lieblichen Ernstes und voll des
rätselhaften Zaubers derer, die den
Himmel Gottes bevölkern. Ja, da war
es geschehen, daß der Geist des Lebens,
der in der geheimsten Kammer des
Herzens wohnt, leidenschaftlich in ihm
erbebte, gleich als fei er kein Knabe
mehr, und zitternd die Worte sprach:
„Ecce deus fortior me, qui veniens
dominabifur mihi!" Und von da ab
bis heute waren all die Jahre nur wie
e i n Pulsfchlag in ihm gewesen, dessen
Sinn war, das Wunder zu suchen, das
in diesem Antlitz, in diesem Wesen
himmlisch verborgen lag, sich der
Gottesnähe und unerhörten Seelen-
macht unter Luft und Qual zu öffnen,
die leibhaftig in ihr wohnte und in
die fein geblendeter Blick immer tiefer
und tiefer wie bis in die goldverfchlei-
erten Fernen ewiger Paradiese tauchte.
Denn Liebe, der der visionäre Weg in
eine hohe Seele vergönnt ift, findet
kein Ende als im Unendlichen.

Und wiederum — wie tiefer Glocken-
fchlag - die geweihte Neun, die drei-
mal aus der hochheiligen Drei der
Trinität gefügte! Neun Jahre lang war
der Knabentraum zum Mannestraum
erwachten, als in neunter Stunde un-
vergeßlichen Tages zum ersten Mal,
an ihn gerichtet, die Stimme der Aller-
holdfeligflen ihm leibhaftig erklang,
da fie, schneeweiß gekleidet, - nicht
weit von hier, auf diefer felben Straße
am gemauerten Ufer des gelbbraunen

Dante fchreibt die Göttliche Komödie LUCA SIGNORELLI

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Hans Reisiger: Letzter Gang
Thomas Mann: Dante
Luca Signorelli: Dante schreibt die göttliche Komödie
 
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