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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 26.1921, Band 1-2 (Nr. 1-31)

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Zeichnung von Julius Diez (München)

Also ward Marti» ,°m Hause des Herrn von Meeuwen ausgenommen und
er brachte alle seine Bubcnlebhafkigkcit mit, seine Lebendigkeit und Knaben-
lust. Vasen entglitten seinen Fingern und regelmäßig einmal in der Woche
zersprang mit louteni Tschin eine der sorgfältig gesammelten Delfter Schalen,
oder Marlin polierte über die Gänge, sanfte mit lautem Krach und empö-
rend hartem Schlußpunkt die schmale Treppe hinab, sang mit Aufopferung
seiner Stimmbänder die deutschen Wanderlieder. Riß dermaßen den ha-
geien, Sonntags mit einer Blume im Knopfloch geschmückten Herrn van
Meeuwen aus seiner Einsamkeit. Nur vormittags mußte er schön still und
brav an der Hand des Herrn van Meeuwen deii obligaten Spaziergaiig
machen, und sah dann mit großen Augen den Schissen uiiö Seglern zu,
die die überseeischen Waren in ihren Ballen uiid Barrels brachten, sah die
vielen Packträger und Schiftsknechte die Kollis über die schwankenden
Steige kragen; die Eifüllung längst erwachter Knabenträume von Meeren,
Segelschiffen, Seeabeiiteuerii. Ostindienfahrer», faßte ihn mit seliger Freude
an, er roch den Duft des javanesifchen Kaffees, der aus den Brennereien
kam. Die Luft des uralten Handelsvolkeg, von denen ein Teil einst Newyork
gründete, wie Ohi» Alph erzählte, genoß er täglich, und selbst die Glocken-
spiele der Türme, die Lieder, die da allstündlich über das verflochtene Ge-
wirr der Dächer ftogen, waren für ihn wie kleine Abenteuer. Oder er
faß stundenlang auf einem Eifenpftock, um den die Seile der verankernden
Schifte geworfen weiden und sah in das Leben des kleinen Hafens hinab . ..

Und am letzten Tag, den Martin im Haufe des Herrn van Meeuwen
verbrachte, war es ganz still. Nur das Feuer der Holzklötze prasselte im
offenen Kamin und warf eine rote Glutwelle in das Zimmer.

Da nahm der hagere und ernste Herr van Meeuwen den blonden Buben
mit beiden Händen an den Wangen und sagte: „Marlin — willst du bei
mir bleiben? . . . solange du Lust hast!" — „Papa!" ries Martin.

Aber >iur kurzer Weile lachte er und sagte: „Ne, Ohm Alph, das geht
ja nicht, meine Mutter, mein Vater, meine Schwester, die Schule, die
Stadt und meine Freunde ..."

„Natürlich . . natürlich!" sagte ganz leise AlphonS.

Das Feuer lärmte auf und eine zuckende rote Flut stoß über die dunklen
Tapeten. Es blitzte seltsam hell in den Fayencen und Vitrinen.

„Aber . . . Martin . . . wiederkommen wirst du doch? . . . Sieh mal,
ich bin..." er sprach nicht iveiter, langsaiii strich er dem Buben durch
dag blonde Haar. — „Ja, dag war' fein . . . wie gut du bist, Ohm ..."

Daiiii lvar es wieder still. So schwermütig, dieses immerwährende

Hereinbrechcn des Schweigens. Die Uhr, in ihrem schwarzgewordenen
Gehäuse sang mit ihren vielerlei silbernen Glockenstiminleiii, wie Spieldosen-
musik, ein Lied. Martin summte es mit. Und plötzlich klopfte Martin mit
einem regelrechten Gefühl des Stolzes dem Ohm Alph auf die Schulter
und sagte: „Ohm, . . . sag mal, warum hast du denn keine Frau?"

Da wandte der Ohm Alph sein ernstes, hageres Gesicht, darin es ver-
stohlen zuckte dem Kamiiie zu, und schweigend, antwortelog, sah er in das
glühende, in jähem Rausch zusanunenfallende Feuer . . .

. . . Der nächste Tag voll von Packen, Abschiednehmen und Tücher-
schwenken. Dann noch eine Sekunde, und Alphoug war wieder allein,
mehr als das, ganz einsam, das heißt, er fühlte nun erst feine Einsam-
keit, über die ihn keine Sonntagsblunie im Kuopstoch hinivcgtäuichen
konnte. Und so wanöerte er still, und plötzlich voll neuer, niegekannter
Vorwürfe und Beschuldigungen gegen sein Schicksal die Koniuginnelaan
entlang, marschierte unter der Militärmnsik über den kleinen Marktplatz,
erwischte noch ein Zipfelchen des Abendglockenliedes und bog aus die
Zuidwillemsvaark ein. Gelbe Lichter blühten ringsum auf, das Wasser in
den Kanälen wurde dunkelgrün und schwarz, und die Schifte schmiegten
sich an die Ufer in leisem Schlaf. Eine ungewisse seltsame Müdigkeit hatte
ihn überfallen, eine eikeunenöe Scheu vor seinem stillen Leben, seinen ein-
satiien Zimmern. Und er dachte znm erstenmal daran, wer er sei, ivie er-
lebte und die Jugend . . . Das war es. Er blieb einen Augenblick lang
stehen, da hörte er sich angerufen. Es war das Fräulein Jakobea, die bei
Gruiters & Co aus deni Laden trat und zu ihm durch deti schwerer cin-
fallenden Nebel kam. — „Mcncer van Meeuwen, ist der Junge schon
weg? Nun werden Sie ivohl wieder ganz einsain und allein sein?"

Er schwieg. Aus dem Laden kam ein Glockeiifchlag.

„Warum, meneer van Meeuwen, . . . sind Sie so allein?"

Er schwieg noch immer. Plötzlich wollte er sich abwenden und in die
Nacht öavongehen. Aber er blieb und sah dem Fräulein Jakobea often
ins Gesicht. Und sie fragte ganz leise: „Warum, AlphonS?"

Da steute er sich jäh wie ein Kind, riß ihre Hand zu sich und sagte
unterdrückt von tiefer Hoffnung uiid Freude: „Jakobea!"

Daun eilte er rasch, in froher Jugendhaftigkeit in die Nebelschleier
hinein, jung geworden, beraiischt davon. Und über ihm sielen, verwischt,
unsicher funkelnde Sterne in die dunklen Fallen der Nacht, lind ein blasser,
aus Wachs geschnittener Neuinond ließ durch das graue Nebelglas eine
milde feine Welle silbernen Lichtes über die Dächer stießen . . .

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Julius Diez: Chamäleon
 
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