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DER RAUSCHENDE BERG

VON JOSEF WINCKLER

In meinen diesjährigen Sommerferien hab ich ein großes Wunder
erlebt. Wir saßen um den Mittagstisch, und der alte Förster erzählte,
daß draußen hinterm Wald ein seltsamer Berg liege, den der Volks*
mund „rauschenden Berg“ nenne. Es sei wohl der Mühe wert, hin-
zugehn.

Aber der Nörgler und Pessimist, der Politiker, lächelte durch die
Brille: „Weiß, weiß — ich war natürlich schon da — das Phänomen
erklärt sich dadurch, daß der Wind in der Mulde sich fängt und so-
mit ein allerdings merkwürdiges Geräusch vor dem Berge steht.“

Der verabschiedete Offizier, der immer nur noch vom verlornen
Krieg sprach, meinte: „Kann ja noch einfacher aus Bäumen kom-
men, oben auf dem Kamm, im Winde, der aus der Ebene hinten heran
weht, sodaß man hier unten im Tal ihn nicht spürt — “

Der alte Förster schwieg. Er sah mit seinen klaren Augen so
durch die ganze Gesellschaft abwesend hindurch, daß ich beschloß,
hinzugehn.

Der Berg ragt aus dunklem Basalt, ein mächtiger Bruch klafft in
der Mitte, riesig treten die Lagerungen des Massivs zu Tage, ge-
krönt von Tannen. Ungeheuer darüber strahlende Sommerwolken.
Und wahrhaftig, je näher ich kam, desto deutlicher wuchs das Kau-
schen. Ich merkte sofort, daß es kein Wind war. Es ging im Berg
wie ein brandendes Meer hin und her, gleichmäßig heiser und hohl,
anschwellend und rollend und wieder ebbend, grausig und schön.
Als surrten tausend mal tausend Maschinen in seiner Tiefe.

Und wirklich war es so. Äfft mich kein Traum? Man weiß ja,
wie auch die kunstvollsten Gebilde der Neuzeit, die modernsten
Maschinen, z. B. ausrangierte Lokomotiven und ausgediente Schiffe,
ihren sogenannten „Friedhof“ haben, wo sie nach schwerem emsigen
Dienst, verschlissen und überholt von neuester Entwicklung, als
Altmaterial zerschrottet werden.

Aber ihre Geister sind nicht tot, sie versammeln sich in diesem
Berg.

Da sah ich den mythisch Ur-Alten der Töpferscheibe aus der Ton-

zeit, den behäbigen Greis des Göpelwerks, beide noch ein bissei ein-
fältige Handwerker, dann die Seele des Webstuhls, schon selbstän-
diger und viel jüngeren Datums, den frommen Genius der ersten
Druckerpresse, der noch Bibelsprüche murmelte, den bereits ge-
fährlicheren Schwarzteufel des Pulvers, den Irrwisch des Perpe-
tuum mobile, manch grüblerisch unbeholfener Kobold darunter von
wunderlicher Gestalt der Retortenknechte, aber immer sinnvoller,
immer zahlreicher, immer lebendiger, bis zum schnaubenden Moloch
der ersten Dampfkolben, zu den glühenden Feuergeistern des Stahl-
gusses und Schmelztiegels, immer unzähliger, grausiger, immer grö-
ßer, kühner, herrischer, herrlicher, je mehr man der Gegenwart nahte,
aber alle in ununterbrochener Kette der Entwicklung miteinander
verwandt und verwoben, bis zu jenen sehergleichen unheimlichen
Zauberern der Elektrizität, bis zu den phantastisch kribbeligen Ge-
sellen der Schreibmaschine, dem schnellfüssigen Homunculus des
Telephons, den wispernden, lärmenden, raffinierten Spukgestalten
des Sprechapparates und tanzenden Flimmergespenstern des Kine-
matographen, den Hexen drahtloser Telegraphie, allwissenden Gei-
stern der Röntgenbestrahlung, viele Jünglinge in besten Jahren, so
rapid schon überholt, bis zu den Dämonen der Dynamos und Flugs
motore, mit silberblanken, ganz spirituellen Gesichtern, hochfre-
quente, hohe Intelligenzen und Exzellenzen, am ganzen Leibe blit-
zend, daß man sich nicht näher wagen darf, ohne von ihrer Sphären-
spannung getötet zu werden, wie aus einer anderen Welt. Die
selbsttätig rechnen und zählen, sich ein- und umschalten, Ventile
öffnen, wenn’s ihnen zu heiß wird, denkend wie lebende Wesen,
fabelhaft kompliziert und entwickelt, oft nur mit Asbesthandschuhen
zu befühlen, so erlauchte Fremdlinge noch unter ihren Genossen,
Wundersöhne, unbegreiflich starke und tätige Gestalten unserer
Zeit.

Und ich stand unter ihnen allen und wußte dies nicht zu deuten.

Da sprach der Geisterkönig des Berges mit seiner tiefen Stimme:
„Ich heiße der schöpferische Genius! Dies sind meine Kinder.

TRIOSTRASSE IM WALZWERK HEINRICH KLEY

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Register
Heinrich Kley: Triostraße im Walzwerk
Josef Winckler: Der rauschende Berg
 
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