DIE ZIGARRE
von cmil Gradl
Als Michael seine Mahlzeit beendet hatte, griff er nach der winzig
kleinen, fpinnendünnen Papieiserviette und versuchte sich mit ihr den
Mund zu reinigen, doch zerfloß sie an der Feuchtigkeit seiner tippen.
Gedankenlos zerkrümelte er die Überreste, fühlte, wie sich die auf-
gelösten Papierfasern unter der drehenden Bewegung seiner Finger
härteten und war mit einer ungewissen, traumhaften Zufriedenheit
erfüllt, für feine Hände eine Tätigkeit gesunden zu haben. Der den
Speisen in einer Garküche eigentümliche schale Nachgeschmack setzte
sich zäh und klebrig in Michaels Mundhöhle an und nötigte ihn, be-
ständig die tippen anzufeuchten.
Lin skrofulöses Mädchen, das den von halbvernarbten Schnitten
verunstalteten Hals in einen drahtgestreiften Blusenkragen gespannt
hatte, malmte an bröselndem Maisgries, den sie hastig und geziert
mit geradzinkiger Gabel schaufelte. Dann schob sie dem mürrischen
Nellner das Geld zu und stolperte, verwirrt und kauend noch, auf
die Straße.
Zn d e bewegungsvolle Stille des mit Speisendunst erfüllten Rau-
mes stürzte plötzlich zum geöffneten Fenster herein das verdrossene,
feindselige Summen einer schweren Biene. Haarig und bernsteinfarben
jagte sie von Wand zu Wand, klatschte unappetitlich gegen die b inde
Spiegelscheibe und zog weite, gereizte Nreise um einen von der Mitte
der Decke herabhängenden Draht. Alle Blicke segelten gebannt mit
dieser Biene, auf allen Halfen drehten sich die Näpfe gleichmäßig nach
ihrem Zickzackflug, und die Furcht, sie aus den Augen zu verlieren,
straffte die Mienen. Geschah es doch, daß die Biene du- ch eine blitz-
rasche Wendung oder hinter jchleierndem Sonnenglast sich dem
Blick des einen oder andern entzog, dann suchte er angstvoll nach
Bahn und Ziel.
Lüstern und mißtrauisch näherte sich die Biene nach langem Irren
dem aus Michaels Tisch in einem Linfiedeglas steckenden Blumenstrauß
aus sonnenzerjrefsenem Papier. Mit schwirrenden Flügeln hing sie
in der Luft und beglotzte aus schnüffelnden Nugelaugen die Blüten,
die mit einer dichten Staubschicht bedeckt waren. Dann ließ sie sich
auf einem ausgcbleichten Veilchen nieder und entrollte gierig den
Rüssel.
Michael erhob sich ein wenig von seinem Platz, um alles genau
beobachten zu können, auch die anderen Gäste streckten erwartungs-
voll die Hälfe und sogar der schläfrige Nellner blirnelte mit einem
schadenfrohen Grinsen herüber. Als die Biene ihren Irrtum gewahr
wurde, wirbelte sie mit tollem Gesumme von der Blüte hoch, gebärdete
sich in überstürzten Flügen wie rasend und fand schließlich wieder
den Weg ins Freie. Zn diewieder eintretendeStillewehtenfcharrende
Füfe, wie im Theater, wenn der Vorhang gefallen ist.
Michael spülte hastig ein Glas des abgestandenen Wassers durch
den trockenen Hals. „Zch auch," sagte er, „ja, ich auch," und wußte
keine klare Idee mit diesen Worten zu verbinden.
Nun war wohl etwas wie eine kleine Beschämung in allen diesen
Leuten, daß sie dem Flug einer verirrten Biene so viel Interesse ent-
gegengebracht, daß sie so offenkundig zu erkennen gegeben hatten, wie
sie jedes noch so kleine Geschehnis als willkommene Ablenkung von
ihren düsteren, drückenden Gedanken begrüßten. Za, diese Biene war
wohl ein wundertätiges Insekt gewesen, das für einige Minuten alle Nöte
des würgenden Lebens vergessen ließ, eine Heilbringerin war sie, eine Schau-
spielerin. Sie entfloh durchs Fenster und ließ einen stumpfen Menschenhau-
fen zurück, der gerade nur noch soviel Lebenskraft aufbrachte, um ein wenig
mit den Füßen zu scharren.
Lin an Michaels Tisch vorübergehender Herr paffte einen Rauchschwaden
vor sich hin, es schien ihm zu schmecken. Der Schwaden ballte sich zusammen,
ringelte sich ein wie ein ruhebedürftiges Tier, es war ein mächtiger Schwa-
den. Dann lag er st'll und frei da, eine ganze Weile lag erregungslos, man
koirnte ihn gut betrachten. Da ist nun ein Rauchschwaden, dachte Michael,
er ist da und lebt. Michael hielt den A'em an, um ihn nicht ru zerstören, es
verursachte ihm vie e Mühe, aber er a'mete doch so viel wie gar nicht, ein
wenig nur, um nicht zu ersticken. Ls intereffierte ihn, was wohl weiter
p a r k j z e n e
mit dem Schwaden geschehen werde, deshalb saß er da und schaute ihn an.
Oer Schwaden konnte plötzlich in nichts zergehen, oder er konnte eine ganz
abenteuerliche Gestalt annehmen, etwa wie ein eiserner Ritter. Auch solche
Schwaden hat man schon gesehen, die wie ein Mädchenkopf geformt waren
oder wie ein Segelschiff, jedenfalls waren allerle Überraschungen zu erwar-
ten. welle'chtflog er auch mit einem lauten Nnall auseinander. Nun wollen
wir einmal sehen, dachte Michael, und fein Gesicht war verzerrt.
Zn dem Schwaden aber begann es m>t einemmal m wallen, er dehnte
sich dahin und dorthin und setzte sich in Bewegung. Gerade aus Michael zu
fetzte er sich in Bewegung, er wanderte gegen seinen Nops, hoho, nun wird
er zerschellen.
Michaels Gesicht ist nun vollkommen gedunsen, er hat das Atmen ganz
eingestellt und lauert. Der Schwaden teilt sich in zwei Strähne, die sich an
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von cmil Gradl
Als Michael seine Mahlzeit beendet hatte, griff er nach der winzig
kleinen, fpinnendünnen Papieiserviette und versuchte sich mit ihr den
Mund zu reinigen, doch zerfloß sie an der Feuchtigkeit seiner tippen.
Gedankenlos zerkrümelte er die Überreste, fühlte, wie sich die auf-
gelösten Papierfasern unter der drehenden Bewegung seiner Finger
härteten und war mit einer ungewissen, traumhaften Zufriedenheit
erfüllt, für feine Hände eine Tätigkeit gesunden zu haben. Der den
Speisen in einer Garküche eigentümliche schale Nachgeschmack setzte
sich zäh und klebrig in Michaels Mundhöhle an und nötigte ihn, be-
ständig die tippen anzufeuchten.
Lin skrofulöses Mädchen, das den von halbvernarbten Schnitten
verunstalteten Hals in einen drahtgestreiften Blusenkragen gespannt
hatte, malmte an bröselndem Maisgries, den sie hastig und geziert
mit geradzinkiger Gabel schaufelte. Dann schob sie dem mürrischen
Nellner das Geld zu und stolperte, verwirrt und kauend noch, auf
die Straße.
Zn d e bewegungsvolle Stille des mit Speisendunst erfüllten Rau-
mes stürzte plötzlich zum geöffneten Fenster herein das verdrossene,
feindselige Summen einer schweren Biene. Haarig und bernsteinfarben
jagte sie von Wand zu Wand, klatschte unappetitlich gegen die b inde
Spiegelscheibe und zog weite, gereizte Nreise um einen von der Mitte
der Decke herabhängenden Draht. Alle Blicke segelten gebannt mit
dieser Biene, auf allen Halfen drehten sich die Näpfe gleichmäßig nach
ihrem Zickzackflug, und die Furcht, sie aus den Augen zu verlieren,
straffte die Mienen. Geschah es doch, daß die Biene du- ch eine blitz-
rasche Wendung oder hinter jchleierndem Sonnenglast sich dem
Blick des einen oder andern entzog, dann suchte er angstvoll nach
Bahn und Ziel.
Lüstern und mißtrauisch näherte sich die Biene nach langem Irren
dem aus Michaels Tisch in einem Linfiedeglas steckenden Blumenstrauß
aus sonnenzerjrefsenem Papier. Mit schwirrenden Flügeln hing sie
in der Luft und beglotzte aus schnüffelnden Nugelaugen die Blüten,
die mit einer dichten Staubschicht bedeckt waren. Dann ließ sie sich
auf einem ausgcbleichten Veilchen nieder und entrollte gierig den
Rüssel.
Michael erhob sich ein wenig von seinem Platz, um alles genau
beobachten zu können, auch die anderen Gäste streckten erwartungs-
voll die Hälfe und sogar der schläfrige Nellner blirnelte mit einem
schadenfrohen Grinsen herüber. Als die Biene ihren Irrtum gewahr
wurde, wirbelte sie mit tollem Gesumme von der Blüte hoch, gebärdete
sich in überstürzten Flügen wie rasend und fand schließlich wieder
den Weg ins Freie. Zn diewieder eintretendeStillewehtenfcharrende
Füfe, wie im Theater, wenn der Vorhang gefallen ist.
Michael spülte hastig ein Glas des abgestandenen Wassers durch
den trockenen Hals. „Zch auch," sagte er, „ja, ich auch," und wußte
keine klare Idee mit diesen Worten zu verbinden.
Nun war wohl etwas wie eine kleine Beschämung in allen diesen
Leuten, daß sie dem Flug einer verirrten Biene so viel Interesse ent-
gegengebracht, daß sie so offenkundig zu erkennen gegeben hatten, wie
sie jedes noch so kleine Geschehnis als willkommene Ablenkung von
ihren düsteren, drückenden Gedanken begrüßten. Za, diese Biene war
wohl ein wundertätiges Insekt gewesen, das für einige Minuten alle Nöte
des würgenden Lebens vergessen ließ, eine Heilbringerin war sie, eine Schau-
spielerin. Sie entfloh durchs Fenster und ließ einen stumpfen Menschenhau-
fen zurück, der gerade nur noch soviel Lebenskraft aufbrachte, um ein wenig
mit den Füßen zu scharren.
Lin an Michaels Tisch vorübergehender Herr paffte einen Rauchschwaden
vor sich hin, es schien ihm zu schmecken. Der Schwaden ballte sich zusammen,
ringelte sich ein wie ein ruhebedürftiges Tier, es war ein mächtiger Schwa-
den. Dann lag er st'll und frei da, eine ganze Weile lag erregungslos, man
koirnte ihn gut betrachten. Da ist nun ein Rauchschwaden, dachte Michael,
er ist da und lebt. Michael hielt den A'em an, um ihn nicht ru zerstören, es
verursachte ihm vie e Mühe, aber er a'mete doch so viel wie gar nicht, ein
wenig nur, um nicht zu ersticken. Ls intereffierte ihn, was wohl weiter
p a r k j z e n e
mit dem Schwaden geschehen werde, deshalb saß er da und schaute ihn an.
Oer Schwaden konnte plötzlich in nichts zergehen, oder er konnte eine ganz
abenteuerliche Gestalt annehmen, etwa wie ein eiserner Ritter. Auch solche
Schwaden hat man schon gesehen, die wie ein Mädchenkopf geformt waren
oder wie ein Segelschiff, jedenfalls waren allerle Überraschungen zu erwar-
ten. welle'chtflog er auch mit einem lauten Nnall auseinander. Nun wollen
wir einmal sehen, dachte Michael, und fein Gesicht war verzerrt.
Zn dem Schwaden aber begann es m>t einemmal m wallen, er dehnte
sich dahin und dorthin und setzte sich in Bewegung. Gerade aus Michael zu
fetzte er sich in Bewegung, er wanderte gegen seinen Nops, hoho, nun wird
er zerschellen.
Michaels Gesicht ist nun vollkommen gedunsen, er hat das Atmen ganz
eingestellt und lauert. Der Schwaden teilt sich in zwei Strähne, die sich an
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