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DIE MOMENTANE VER*
LEGENHE1T

von Hanns Heidjleck (Wiesbaden)

Basel-Lhiasfo. Schnellzug. „Linsteigen,
meine Herrschaften — einsteigen!

Lin kurzer Pfiff. Ich sinke in die Polster-
sessel der i. Rlasse zurück. Damals war ich
noch wohlbestallter Beamter. Wenn man
einige Lrsparniffe machte-

3d> wollte nach Mailand, später in die
Riviera. Linstweilen las ich die Züricher
Zeitung und paffte denRauch einerZigarre
behaglich aus. — Mir gegenüber eine ent-
zückende kleine Blondine.

„Gestatten Sie, daß ich das Fenster öff-
ne?" fragte ich etwas befangen, „draußen
ist so herrliche tust-"

Damit war die Unterhaltung schon an-
geknüpft. Sie sprach nur gebrochen Deutsch
und war, wie sie erzählte, eine italienische
Sängerin. Der lange St. Gotthard kam
— das ticht im Abteil schien glücklicher-
weise nicht in Drdnung zu sein. Ls blieb
dunkel und ich habe in diesen 20 Minuten
den St. Gotthard sehr, sehr lieb gewonnen.

Dann kam der Schaffner.

„Die Fahrkarten bitte!" — Die Kleine
suchte ihr Täschchen. Sie suchte — und
fand es nicht. Mit erschrocken-verblüffter
Miene sah sie mich an.

„Mein Gott — " sagte sie, „man hat mir
mein Täschchen gestohlen. Nit soo Franken,
wahrscheinlich, als ich in Bafel auf der
Llektrischen fuhr — darf ich Sie bitten,
mein Herr, mir in dieser momentanen Ver-

legenheit auszuhelfen? Ich will zu meinem schon wieder zu schicken. Zn Mailand nahm Umstellung wiederum in der tage, i. Rlasse
Bruder nach Genua Lr ist sterbenskrank ich Abschied von ihr. Mit einem herzlichen zu fahren, lehnte ich mich, wie einst im

— vielleicht sehe ich ihn niemals wieder, Händedruck.- Mai. behaglich in die Polster zurück.

wenn ich nicht jetzt-" Das Geld habe ich nicht wiedergesehen. Wieder vor mir eine einzelne Dame.

Und es perlten die Tränen. Zch blieb-Rur; nach dem Kriege, als ich noch Diesmal mit schwarzem Haar-glut-

Kavalier — zahlte und schwieg. Schieber war (zur Zeit spekuliere ich) fuhr äugig, wie die Kleine von ehemals.

Sie versprach mir das Geld morgen ich dieselbe Strecke. Znfolge meinerBeruss- Und wieder kam der St. Gotthard mit

entzückender Dunkelheit.

Man hat doch oft Lrlebnisfe, die sich
sehr ähnlich sind!

Der Schaffner trat ein, um nach den
Karten zu fragen. Die Kleine, die sich mir
in gebrochenem Deutsch als Spanierin
vorgestellt hatte, suchte nach ihrer Tasche,
suchte — und fand sie nicht.

„Mein Gott" sagte sie mit entzückend
wehmütigem Augenaufschlag, „man hat

mir meine Tasche gestohlen-mit

5000 Franken-wahrscheinlich am

Schalter, als ich die Fahrkarten löste-

darf ich Sie bitten, mein Herr, mir in die-
fermomentanenverlegenheit auszuhelfen?
2000 Franken würden genügen. Ich will
meinen kranken Bruder in Barcelona be-
suchen -er ist sterbenskrank-"

Mehr hörte ich nicht.

Lin blitzartiges Lrkennen durchzuckte
mein Hirn, und fluchtartig verließ ich das
verhängnisvolle Kupee.

Zn Chiasfo hatte ich ein kurzes Telephon-
gespräch mit der Kriminalpolizei.

Wahrscheinlich hat durch das Lingrei-
fen dieses Drgans die Reise der kleinen
„Spanierin" zu ihrem totkranken Bruder
Großbetrieb. „Mir, mit insana Kon fl uzion miss'n freili mehra oadieno, ois wia dö andern, nach Barcelona eine kleine Unterbrechung
wo mir in der Fruah icho so vui essen miss'n, ois wia a kloana Beamter in da ganz'n Woch'n!" erfahren. — —

» Lei etwaigen Bestellungen bittet man auf die Münchner „Jugend'1 Bezug zu nehmen

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1922 / JUGEND Nr. 3
Index
Hans Heidsieck: Die momentane Verlegenheit
Willy Hallstein: Großbetrieb
 
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