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SCHLOSS NISCHWITZ BEI WURZEN RICHARD PUTTNER f

DIE STRASSE DES HERRN KNOLL

EINE ALLTÄGLICHE GESCHICHTE VON EUGEN KALKSCHMIDT - ZEICHNUNGEN VON PAUL NEU

atiirlidi wäre es (ehr leicht, die Geschichte einer Strafte zu
erzählen, die ihre Geschichte gleichsam selber erzählt. So
eine lauschige, krumme, alte Strafte in einer kleinen deut-
schen Stadt, was kann die alles aus ihrer Vergangenheit
berichten! Ein jeder der braunen verräucherten Giebel
weift etwas anderes; im Dunkel
der Laubengänge und Kauf-
mannsgewölbe, in der gemütlichen Fenfternifche
des Herrn Apothekers und in dem griinumlaub-
ten Eiker des „Goldnen Schwans” hat es zu allen
Zeiten so unzählige Neuigkeiten gegeben, daft
man nur richtig die Augen auszumachen braucht,
um das Leben einer solchen Strafte von Anjang
an glatt herunter zu erzählen.

Oder eine schöne breite Landstrafte, die durch
die Wälder, durch die Auen, an stolzen Schlössern
vorbei und durch die freundlichen Dörfer läuft,
die vielleicht unter ihrem neuen Basaltschotter
die Steine und Furchen aus der Römerzeit ver-
borgen hält - die hat natürlich auch ihre Ge-
schichte und gehört damit schon ins Fach der ernsten, gestrengen Hiftoria.

Aber eine ganz gewöhnliche, nüchterne Groftftadtftrafte, die keine Häuser
hat, sondern nur Straftenwände links und rechts, keine Krümmungen, son-
dern nur scharfe Ecken, keine Lauben und Nischen, sondern nur Auslagen - ja,
was soll man der eigentlich von der Stirn ablesen?

So denkt ihr. meine gestrengen Mitbürger. Aber man kann auch anders
denken! — Zum Beispiel der Herr Finanzamtskassier Kn oll dachte ganz anders
darüber. Viel günstiger und sozusagen aussichtsreicher.

Wenn der am frühen Morgen durch die fofephinenftrafte ins Amt ging, hatte
er dermaften viel zu sehen, zu vergleichen, zu mutmaften, feftzuftellen und
zu bemerken, daft ein anderer, ein rechnerisch weniger klarer Kops darüber
unfehlbar konfus geworden wäre. Knoll aber, an ganz andere Hindernisse
durch sein schweres Amt gewöhnt, überwand die Jo|ephinenftrafte spielend.

— Er kannte, um von unten anzufangen, das
Straftenpslasier genau Es war im Laufe der fahre
etwas löcherig geworden. Namentlich die Fliesen
des Gehsteiges, ernst von blendender Ebenmäftig-
keit und Schönheit, waren durch die ungezählten
Fufttritte doch sehr aus der Fassung geraten. Sie
hatten teilweise mit Erfolg versucht, dieser Behand-
lung nach der Tiefe zu auszuweichen, harten, grup
penweise, Senkungen vorgenommen und auf diese
Art Mulden gebildet, selbst Löcher, in die der Fuft
des achtlosen Wanderers hineinftolperte. Während
Leute wie Knoll, die ihren Weg kannten, mit ge-
schlossenen Augen hätten gehen können, ohne im
geringsten zu gleiten zu stolpern oder gar zu stür-
zen, wie es neulich dem achtbaren Fräulein Hinter-
meier begegnete; beim Neuschnee allerdings und gottlob ohne ernstere Folgen
als die, daft ihr Gebift sich lockerte und in den Rinnstein gekollert wäre, wenn
nicht Knoll es rasch in feinem blitzschnell gezogenen Hute aufgefangen und der
tief erschreckten Dame höflich überreicht hätte.

Ja, zu solchen Rettungen kommt man eben nur, wenn man die Augen offen
und feine Geistesgegenwart stets bei sich hat.

Das unterschiedliche Verhalten der Straftenziegel beunruhigte Knoll tief
und andauernd. Er fthloft, ohne gerade ein geübter Philosoph zu fein, von

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Paul Neu: Illustration zum Text "Die Strasse des Herrn Knoll"
Eugen Kalkschmidt: Die Strasse des Herrn Knoll
Richard Püttner: Schloß Nischwitz bei Wurzen
 
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