Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
3a, er federt. 3n feinen Lackschuhen streicht er geräuschlos über den
Smyrnateppich hin. Dennoch scheint es stachelig unter ihm ;u fein. Man hat
zuweilen den Lindruck, als ob fein 8uß die Zündschnur einer Pulvermine
meide. Ausstiegen kann alles im nächsten Augenblick.

Wie entsteht doch solche haltlose Vermutung? Hier, in der besten aller
Welten? Ls muß mit dem Tisch Zusammenhängen, an dem der einsame,
schlichte Herr sitzt. Dieser Sonderling mit der Zeche von zweihundert Mark
macht den großen Wirt nervös. Ls ist ihm gegeben, den sichersten Mann
der Welt aus der Kassung zu bringen. Warum? Gerade die seine Scheu
seiner Augen, die Unaufdringlichkeit seines Wesens verraten, daß in ihm die
Rrltik wach wird. Hier regt sich, was der Wirt durchaus bekämpfen muß.
Ls wäre möglich, daß dieser Herr die ganze „Noblesse" nicht ernst nimmt.
Nicht ausgeschlossen ist es, daß er sich über die wundersame Harmonie, die
ein neuer §ürst der Sybariten hervorgezaubert, lustig macht. Lr gleitet nicht
mit edlem Lächeln über Pulverminen hin — sein Wesen gräbt und forscht
und nennt dle Dinge beim Namen.

So geschieht etwas Sonderbares: an dem schlichten Gast, der die
Speisenkarte links und rechts betrachtet hat, schwebt der Wirt ohne Gruß
vorüber. Zst es Absicht oder Unachtsamkeit?-

Ls kann ja nur das Letzte sein. Ls soll wenigstens so aussehen. Da-
neben aber wird auch spürbar: kühle und billige Beobachter, leidende
Deutsche kann lch hier nicht brauchen. — Das böse „Draußen" darf nicht
in meine Raume dringen. — Wer es mitbringt, existiert nicht für mich.

Gb der schlichte Herr auf die Haltung des Wirtes achtet? Ls ist nicht fest-
zustellen. Lr ißt und zahlt (mit einem unverhältnismäßig hohen Trinkgeld)
und geht dann schnell hinaus.

Oer Wirt aber schwebt vom Lmpire zum Rokoko und ln das japanische
Zimmer. Überall verbreitet er Liebe und Freude. Lndlich dann, um zwei
Uhr, kommt auch er zur Ruhe. Lr liegt in seinem Bett und überschlägt, wie
immer, das Lrgebnls des Tages. Beethoven und Shimmy und Traviata
umtönen ihn.

3a, es hat wieder einmal alles geklappt. Reine Lücke kann seine strenge
Selbstkritik entdecken. Ls ist unmöglich, daß heute ein Gast fein Lokal un-
befriedigt verlassen hat.

Doch halt! — Lr seht sich erschrocken aus. plötzlich erinnert er sich jenes
uneleganten Herrn mit den kritischen Augen, der nur igs Mark Zeche hatte.
An dem ist er vorübergegangen, ohne zu grüßen. Das war ein schwerer
Fehler. -

Ls kam nicht auf den Anzug, nicht auf die Zeche an. Zn den Stil des
Lokals hatte der Mann trotz allem gepaßt.

„Mein Gott, wer mag es gewesen sein? womöglich ein 3ournallstl? Wie
wird er über mich hersallen!" flüstert der Wirt.

Oie Harmonie des Tages lst ihm zerstört. Lr schläft nicht ein und unwill-
kürlich falten sich seine feisten Hände: „Möchte er doch wlederkommen,
der billige, deutsche Gast! Dann lasse ich ihn bedienen, als ob er Bul-
gare wäre und Rcwiar äße l — Schick' ihn mir wieder, lieber Gott!"

DIE GNADE

von Rudolf Schneider. Zeichnungen von Paul Neu

Zn einem Zickus trat ein Mann auf, der so leise zu pfeifen vermochte, daß
trotz angespanntester Aufmerksamkeit niemand auch nur ein Läutchen zu
hären bekam. Das war gewiß eine seltene Sache, und der Künstler hatte auch
einen dementsprechenden Lrfolg. Übrigens war die Reklametrommel für
ihn gerührt worden, und man hatte lange Zeit in dle Posaune des Sieges
geblasen, was aber vielleicht gar nicht
nötig gewesen wäre, da eine solch sel-
tene 8cihigkeit ohnedies nach Gebühr
gewürdigt wird, und jedermann sich
dafür interessiert. Man lies in Hellen
Hausen bin.

De Blinz, so hieß der Mann, trat
in einem bräunlich schimmernden
8rack auf, war groß und schlank, hatte
melancholische Augen, einen herab-
hängenden Schnurrbart und sprach
kein Wort deutsch. Lr war in jeder
Beziehung etwas für die weiber.Sein
Zmprejario erklärte, nachdem ein
Gongschlag verklungen war, Mon-
sieur de Blinz werde sich die Lhre
geben, Phantasien zu Tristan und
Zsolde zu pfeifen, und bei dieser Stelle
verneigte sich de Blinz leicht und lä-
chelte wehmülig. Sofort brach don-
nernder Applaus los, von dem Bös-
willige längere Zeit behaupteten, er
sei bestellt. Aber das war Unsinn. Oer
Zmprejario sprach dann noch einiges,
zog sich diskret zurück, und nachdem
sich die Menge beruhigt hatte, begann die Nummer. — Nun war das Nunst-
stück allerdings sehenswert und wunderbar. Zuerst erfüllte Lautlosigkeit den
Raum, und als diese recht tief geworden war, sing urplötzlich das Drchester
an. Vas Drchester fetzte mit einem überraschenden Rucke ein, es kam wie
der Blitz aus heiterem Himmel, ehe man sichs versah, und es vollsührte so-
fort einen derartig höllenmäßigen Spektakel, daß der ganze Zirkus wackelte
und einem fast die Sinne vergingen. Nach und nach milderte sich dieser
lärm dann, klang ab und verlies, während man schon stark beunruhigt war,
ln einer Art von widernatürlichem Säuseln, das die Geiger auf der N-Saite

ihrer Znstrumente mit winzigen, rasend schnellen Bogenstrichen hervor'
brachten. Das dauerte wieder eine ganze Weile und zerriß einem sozusagen
das Herz in der Brust; man sehnte sich krampfhaft nach irgend einer Än-
derung, und die kam schließlich auch. Aus dem Säuseln erklang das Motiv
der Dper, die Monsieur zu pfeifen gedachte; ebenso urplötzlich, wie vorhin,

schmiß einem nun das Drchester mit
geradezu unmenschlicher Roheit eine
güllc von Motiven ins Gesicht, daß
man aus seinem Stuhle wankte, und
zuletzt hörte das alles mit einem ein-
zigen Schlage auf, wie abgeschnitten.
Line grandiose, unüberbietbare
Stille und Lautlosigkeit trat ein, und
man vernahm jene Stecknadel, die zu
Boden siel. Zm selben Moment gin-
gen auch die Lichter aus, und ein
Scheinwerfer begann zu spielen Vie-
ser Scheinwerfer hatte ständig wech-
selndes, blaues und violettes Licht,
er warf seinen Strahl von oben und
begoß damit den Künstler, der ge-
wissermaßen von allem anderen auf
der Welt allein noch übrig blieb.

Zn diese geheimnisvolleSillle und
Dunkelheit hinein begann de Blinz zu
pfeifen. Lr hob die Arme, lächelte
weich, wölbte die Lippe, schloß das
Auge und holte mit spitzen 8lngern
— offenbar doch einen Ton aus dem
Munde hervor, den er auf seiner Hand
nach oben weiterführte und mit schenkender Geste in den Raum entließ. Vieser
Ton (denn wie soll man denn sagen?) war nicht hörbar. Nichts war hörbar.

Das war natürlich außerordentlich. De Blinz schien selbst zu staunen. Lr
schien zu wissen und schien trotzdem zu staunen: er stand nach diesem ersten
Ton ein wenig vorgebeugt und lauschte schmerzlich. Alles lauschte. Man saß
und lauschte, man horchte so unbegrenzt, daß einem Speichel aus dem
Munde floß, doch nichts ward hörbar. Schließlich gab Monsieur ein leises
Zeichen zum Drchester hin. Da wiederholten die Geigen den Ton. Nun zit-
terte er plötzlich greifbar durch den Raum, und - seltsam war das - Allen

694
Register
Rudolf Schneider-Schelde: Die Gnade
Paul Neu: Illustration zum Text "Die Gnade"
 
Annotationen