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der Schreibtischkante, warf noch einen
Bück aufs Thermometer — und
dann auf die Fenster, die vorschrifts-
mäßig bei entsprechender Wärme of-
fen zu halten waren. . . Dann setzte
er den Zylinder auf — und öffnete.

Und da der Herr JesuS ins Zim-
mer trat, blühten die Tapeten an der
Wand wie ein Tulpenbeete auf.

Sonnenkätzchen tanzten auf der
Decke als entstogene Stubenvögel
und aus einer Schwarzwälder Uhr
rief der Kuckuck. . . .

Und sogleich zeigte der Oberlehrer
dem HERRN das Aquarium mit
den Kaulquappen, Blindschleichen
und Feuersalamandern, wobei er
IHN darauf hinwies — es nicht zu
beiühren, weil es frisch gestrichen
wurde und noch nicht trocken war.

Dann kam der SchmetteilingS-
kasten, die neue Elektrisiermaschine
und Karl der Große, auf Leinwand
aufgezogen. . . .

Und jetzt wollte der Oberlehrer
noch die Aufsatzhefte der sechsten
Knabenklasse vorzeigen, die er selbst
unterrichtete.

Aber der Herr JesuS mußte mit
dem neunten Glockenschlag wieder
im Dom am Hochaltar stehen, wo
IHM zu Ehren eine wuchtige
Messe mit Pauken und Trompeten
abgehalten wurde. — Und ER
versprach dem Oberlehrer, morgen
wiederzukommen, um die blau-
äugigen Vorstaötkirider zu besuchen, die jetzt gerade Rechenstunde hakten.

Und gleich, nachdem der Herr Jesus fortgegangen war, schrieb der
Obei lehrer einen weißen Bogen von oben bis unten voll von schöngebauteu
Sätzen an, druckte einmal auf die Klingel — worauf der Hausmeister unter
dem Türrahmen erschien.

Dem gab er jetzt das beschriebene Papier, auf daß er es in einen blauen
Aktendeckel lege, damit ein amtliches Zirkular daraus werde. . . .

In dem sonnenwarmen Schulzimmer wurden gerade die Nebensiüsse
links der Donau aufgesagt, als der Hausmeister mit seinem Ehering an die
Türfüllung klopfte und die Mappe durch den Spalt schob.-

Da die Lehrerin Tora Peter geschrieben sah „Hoher Besuch!", ließ sie
ihre Augäpfel bis auf das Papier heraushängen und schwitzte auf der Nase,
daß der Zwicker herunkerrutschte. Denn sie dachte sofort, daß wieder der
KreiSschulrat kommen werde zum Inspizieren.

Aber als sie nun vollends den ganzen Schrieb über das grasjunge Ge-
zöpf hinlas, stand darin, daß morgen der Herr Jesus die Vorstaökfchule
besuchen wird. „Die Klassen stellen sich ihrem Alter nach im Turnsaal auf.
Zuerst hält der Herr Katechet eine feierliche Ansprache — und dann wild
ein heiliges Lied gesungen, das auf dem Harmonium zu begleiten, der Herr
Singlehrer Daburger die Liebenswürdigkeit haben wird. Die Frau Haus-
meister wird ersucht, für den Herrn Jesus eine fettaugige Fleischsuppe zu
kochen und sie bis zum Schluß der Feieilichkeit auf dem Gasherd warm
zu stellen. ..."

Da funkelten alle Augen wie Türkise eines Juweliestadens. Bis zu den
Ohren hinauf klopften die Herzen im kinderjungen Takte: Und es hämmerte
in dem siiegenstlllen Schulzimmer wie in einer Drelchfcheune.

Alle freuten sich auf den Herrn Jesus noch viel, viel mehr — als wie
auf das Brausebad oder auf die Hitzvakanz . . .!

Große und kleine Fragen flogen sogleich gegen das Pult der Lehrerin.

Ob dos derselbe Herr Jesus fei, wie jener, der in der Biblischen Ge-
schichte abgebildet ist . . .? Ob er auch aus dem Katechismus ausfragen
wird . . .? Und ob er auch baifuß geht und eine blaue Brille trägt wie

der Herr Oberlehrer beim Sonnen-
bad auf seinem Küchenbalkon . . .?
Und dann noch: „Frailein, bringt
unS der Herr Jesus a' an roten Luft-
ballon mit und a' Skranitzen voll
Honigkuacha — wia der Data, wenn
er von der Dult heimkommt . . .?"

Und einen Nachmittag und eine
Nacht lang waren alle Herzen voll
Kerzenlicht — und die Kopfkissen voll
Weihrauchduft....

Bis der große Morgen kam.

Aus dem Dachfenster des Schul-
hauseS wehte stifchgewaschen die
weißblaue Fahne.

Alle hatten sie ihre Sonntags-
kleider angezogen. Neugekauft knarrz-
ten die doppelt besohlten Stiefel.

Knaben ließen sich die Haare
schneiden — auf drei Millimeter,
daniit es noch bis zur FronleichnamS-
prozefsion reicht.

Den Mädchen der Reichen, vom
Versicherungs-Inspektor aufwärts,
waren vom Fiifeur Wellen ins Haar
gebrannt. Die Armen hatten es mit
Wasser angefeuchtet und bügeleisen-
glatt zurückgekämmk.

Im Turnsaal war morgenjungcS
Gras gestreut. An der Wand herum
schlängelten sich Guirlanöen aus Tan-
nengrün.

Die Knaben standen unter den
Ringen und Kletterseilen, die Mäd-
chen der Dampfheizung entlang vom
Thermometer biSzurHauSordnung...
Dann — läutete es. Aber viel länger, als wenn die Pause anfängt.

Und eS wurde mit einem mal ganz licht im Saal. Alle hoben sich auf
die Zehenspitzen. . . .

Und schon stand der Herr Jesus, weißer und heller als die Sonne, auf
dem Podium . . . gerade an der Stelle, wo während des Maifestes der
Kinematograph aufgebaut war.

Uuuh, so weiß, daß es fast blendete . . . .! als ob der Blechdeckel zur
Kinolaterne offen stehen würde!

Ja, und fein Gewand war lichter und reiner als die Küchenvorhänge
der Frau Hausmeisterin, als der Mutter seidenes Brauttaschenkuch. . . .!

Ein Hilfslehrer sagte: „Man hätte sich geschwärzte Gläser mitnehnren
sollen ... so wie bei Sonnensinsternissen!"

Jetzt verteilte der Herr Jesus Heiligenbilder. Darauf war er abgemalt,
wie er als Junge aussah . . . mit Schulranzen und Botanisierbüchse.

Der Herr Katechet und alle Lehrer und Lehrerinnen bekamen dicke Bücher
init Goldschnitt. Nur die Praktikanten erhielten auf den Vorschlag des Herin
Oberlehrers broschierte Exemplare.

Eine Lehrerin älteren Jahrgangs, sie war mit Pestalozzi noch persönlich
bekannt, sammelte von allen Operntenören des Böhmerwaldes Auto-
gramme — und bat nun den Herrn Jesus, damit ER ihr eine freundliche
Widmung in das Buch schreibe. . . .

Und der Herr Jesus wäre noch viel länger im Turnsaal geblieben. Aber
da hat der Herr Oberlehrer ganz leise mit IHM gesprochen, daß er noch
die ueueingerichkele Feueralarinanlage vorführen wolle. . .

Da mußten alle so tun, — als ob es brenne. Die Frau Hausineister
glaubte in ihrer Küche, daß es „echt" gemeint fei — und rannte mit dem
Käsig ihres Kanarienvogels auf die Straße hinaus.

Der Schüler Moritz Tannenwald von der vierten Klaffe war der glei-
chen Meinung — und aß sofort feine drei Butterbrote mit Wursteinlage
auf, damit sie nicht verbrennen. . .

Und alles war so schnell vorbeigegangen, man wußte gar nicht — wie.
So schnell wie es beim Photographieien geht, wenn das Blitzlicht auf-

R. Blanko „Weihnacht"

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Richard Blank: Weihnacht
 
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