Enge» Henke
„Treibe es mit Deiner Geduldprobe nicht zu weit, meine Liebe, — sonst fahre ich Dir
dermaleinst in Dein üppiges Haar und zause es Dir!"
den Aristokraten also entwürdigt, heimatlos mit der Serviette han-
tieren sah.
Da kam er wieder, trug Hamburger Küken, präsentierte sie stumm,
gleichsam erläuternd, und der Emporkömmling nickte gönnerhaft wie
ein Feldherr, der die Parade abnimmt.
Sie sah in das starre Gesicht. Aber er sah nicht auf sie. Er sah auf-
merksam nach den Küken. Er beobachtete nur sein Service. Er war ein
guter Kellner.
Das kleine Hühnchen lag auf dem Teller, reckte hilflos die Beine in
gebräunter Soße, hatte keinen Kopf und keine Füßchen. Es roch fein.
Sollte sie nicht aufstehen, zu dem toten Königssohn gehen, ihn auf
die Stirn küssen, ihm sagen: Bruder, auch ich! — und du und das
kleine Hühnchen - wir, die Entwurzelten, die Deplacierten, die ewig
Heimatlosen — verzeiht mir mein seidenes Kleid — verzeiht mir die
flimmernden Ringe — verzeiht mir, daß ich euch verriet — verzeiht! —
Der bleiche Kellner beugte sich, legte Salat auf den Teller dicht
neben ihr.
Und da geschah eö: sie griff nach der Hand, die das Salatbesteck hielt,
griff zitternd danach, als wäre hier ein Halt und könne sie sich durch
diese Hand an ihre verirrte, heimatlose, zerstörte Vergangenheit rückerin-
nernd klammern und von ihrer gesättigten friedlichen Zukunst erretten.
Einen Moment schien ihr das Gewirr von Musik, Stimmen und
Tellerklappern als Chaos in ihrem eigenen Hirn zu erklingen, dann
sanken die goldenen Lüster von der Decke herab, die sich mit blendenden
Lichtern drehten . . .
Zehn Minuten später fragte ein älterer Herr am Nebentisch: „Nun,
ist die Dame wieder zu sich gekommen?" „Gewiß, jawohl", sagte der
bleiche Kellner, sich höflich verneigend, „die Herrschaften sind bereits
nach Hause gefahren."
„Sie war wohl recht geschnürt?" fragte abermals der ältere Herr.
„Gewiß, jawohl," cntgegnete zerstreut der bleiche Kellner, denn er
rechnete gerade seine Trinkgelder nach.
Im Office stand noch unberührt das Hamburger Kücken auf dem
Teller. Eö war zwar schon ein bißchen kalt, aber der bleiche Kellner aß
es trotzdem mit Appetit.
Dann ging er zurück in den Saal, lehnte schmal und überfein gegen
eine Anrichte und schaute teilnahmslos wie in eine Leere.
Er dachte an ein Fräulein von der Konfektion namens Marie; er
träumte davon, daß er Oberkellner sei, daß er sie heiraten würde, wenn
er Barkcever wäre.
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„Treibe es mit Deiner Geduldprobe nicht zu weit, meine Liebe, — sonst fahre ich Dir
dermaleinst in Dein üppiges Haar und zause es Dir!"
den Aristokraten also entwürdigt, heimatlos mit der Serviette han-
tieren sah.
Da kam er wieder, trug Hamburger Küken, präsentierte sie stumm,
gleichsam erläuternd, und der Emporkömmling nickte gönnerhaft wie
ein Feldherr, der die Parade abnimmt.
Sie sah in das starre Gesicht. Aber er sah nicht auf sie. Er sah auf-
merksam nach den Küken. Er beobachtete nur sein Service. Er war ein
guter Kellner.
Das kleine Hühnchen lag auf dem Teller, reckte hilflos die Beine in
gebräunter Soße, hatte keinen Kopf und keine Füßchen. Es roch fein.
Sollte sie nicht aufstehen, zu dem toten Königssohn gehen, ihn auf
die Stirn küssen, ihm sagen: Bruder, auch ich! — und du und das
kleine Hühnchen - wir, die Entwurzelten, die Deplacierten, die ewig
Heimatlosen — verzeiht mir mein seidenes Kleid — verzeiht mir die
flimmernden Ringe — verzeiht mir, daß ich euch verriet — verzeiht! —
Der bleiche Kellner beugte sich, legte Salat auf den Teller dicht
neben ihr.
Und da geschah eö: sie griff nach der Hand, die das Salatbesteck hielt,
griff zitternd danach, als wäre hier ein Halt und könne sie sich durch
diese Hand an ihre verirrte, heimatlose, zerstörte Vergangenheit rückerin-
nernd klammern und von ihrer gesättigten friedlichen Zukunst erretten.
Einen Moment schien ihr das Gewirr von Musik, Stimmen und
Tellerklappern als Chaos in ihrem eigenen Hirn zu erklingen, dann
sanken die goldenen Lüster von der Decke herab, die sich mit blendenden
Lichtern drehten . . .
Zehn Minuten später fragte ein älterer Herr am Nebentisch: „Nun,
ist die Dame wieder zu sich gekommen?" „Gewiß, jawohl", sagte der
bleiche Kellner, sich höflich verneigend, „die Herrschaften sind bereits
nach Hause gefahren."
„Sie war wohl recht geschnürt?" fragte abermals der ältere Herr.
„Gewiß, jawohl," cntgegnete zerstreut der bleiche Kellner, denn er
rechnete gerade seine Trinkgelder nach.
Im Office stand noch unberührt das Hamburger Kücken auf dem
Teller. Eö war zwar schon ein bißchen kalt, aber der bleiche Kellner aß
es trotzdem mit Appetit.
Dann ging er zurück in den Saal, lehnte schmal und überfein gegen
eine Anrichte und schaute teilnahmslos wie in eine Leere.
Er dachte an ein Fräulein von der Konfektion namens Marie; er
träumte davon, daß er Oberkellner sei, daß er sie heiraten würde, wenn
er Barkcever wäre.
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