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Die modische Linie hat seit einem Jahrzehnt sich durchaus gewandelt.
War die moderne Silhouette einst starr und gebunden in der Form,
beengt in der Taille und geschraubt in der Haltung, so ist sie heute ge-
lockert und gelost. Steife Kanapees, steil aufragende Stuhllehnen luden
unsere Väter zu senkrechter Haltung ein; kaum wagte höfisches Gebaren,
den Rücken an solcher Lehne zu stützen.

Es geschah, daß die Söhne nach der erstarrten senkrechten Haltung
sich zur wagcrechten bekannten; sie glitten zurück in weiche bequeme
Sesiel. Zweifellos übernahmen wir die neu« lässige Pose aus Amerika,
dem Lande, das den Ausspruch time is money prägte. Dort liebt man
nicht die nervöse Geste europäischer Überstürztheit, dort schätzt man die
beruhigende Ruhe äußerer Form. Es scheint, daß mit dem gesteigerten
Lebenötempo, mit der hastigen Überbrückung der Fernen der Ausdruck
der Ruhe als Ausdruck der Vornehmheit gefordert wird, da Vornehm-
heit die Geste der Souveränität in jeder Lebenslage bedeutet.

Eigentlich sitzt der moderne Mensch immer so, als führe er einem
Ziele entgegen. Er lehnt in ganz der gleichen Gebärde in den Polstern
eines Klubseffels wie in den Lederpolstern eines Autos oder eines Eisen-
bahnabteils. Ja, seine Pose ahmt selbst beim ruhigen Sitzen de» eilig

Voran-Sausenden nach, der in zurückgeneigter Haltung Distanzen
überwinden muß.

Der Reiz und der Schick der neuen Modelinie beruht auf der Re-
aktion gegenüber der einstigen mangelnden Freiheit und Gelöstheit natür-
licher Formen. Daß unsere Mode die Linien der Gelöstheit sogleich um
einige Nüancen übersteigert, liegt darin begründet, daß eine jede Mode in
ihrer Herrschaft zur Übertreibung neigt. Denn jede Mode birgt im tiefsten
ihre eigene Karikatur; erst die Träger einer Mode versöhnen und ver-
schönen ihr Klischee durch die individuelle Prägung, die sie ihr verleihen.

Die Gebärde überlegener Ruhe, die dem Denker und dem führenden
Manne der Arbeit gebührt, wird heute vielfach von dem modernsein-
wollenden Menschen aufgegriffen und die Geste befreiter Natürlichkeit
mit dem Ausdruck der Blasiertheit verschmolzen. Es sind die Poseure
übertriebener Natürlichkeit, die die natürliche Pose zerstören.

Sichtlich aber hat unsere Epoche das Streben nach erhöhter Natür-
lichkeit, nach Iung-Sein, nach dem „Neuen" schlechthin, das sie überall
als Schlagwort verkündet. Nicht nur in Kunst und Politik, auch in der
führenden Mode wird das Streben offenbar. Die Sehnsucht nach Ju-
gend streut allenthalben die Masken übertriebener Jugendlichkeit auf
Register
Katharina (Catherina) Godwin: Die Modische Linie
Franziska Schlopsnies: Illustration zum Text "Die Modische Linie"
 
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