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Vor der Seereise

Otto A. Hirth

Der dran hing, er wollte, das Gesicht zwischen den gespannten
Armen an die Wagcnwand gepreßt, schreien — er konnte nicht.

Ruhe, Ruhe, Überlegung. Warum stand der Wagen? Störung?
Ausgeschlossen! Verschnaufte die Maschine? Dann doch nur Sekun-
den — gleich wird's wieder rücken, schultern, ihn den Rest hinüber-
tragcn, sanft da drüben landen bei ein wenig spöttischem Klirren
des eisernen Gerüsts im Rücken: He du, ich Hab dich wohl ein wenig
erschreckt? Verzeih, ich wußte nicht, daß deine Nerven gleich den
Knacks davon hätten —

Knacks? Hatte es nicht eben über seinem Kopf im Rollgelenk ge-
knackt? Sicher ging der Wagen schon, ohne daß er es gemerkt?

Er schaute gegen Himmel. Natürlich ging der Wagen. Man sah
cs an den Wolken. Gottfeidank, gleich würde er dort drüben an die
Bühne stoßen, würden die verzerrten Arme wieder locker werden
dürfen — sie begannen weh zu tun, die Arme, arg weh — es war
hohe Zeit.

Noch immer nicht der Anstoß? Wie die Zeit doch trügt! Also war
es doch so, wie er cS einmal gelesen, daß Minuten sich zu Ewigkeiten
dehnen können ...

Wieder sah er gegen Himmel. Hohngelächtcr stürzte von der
blauen Glocke: Nicht sein Wagen ging, die Wolken gingen.

Lautlos. Unbeteiligt. Und der Wagen stand ... Festgefahrcn bis
zum jüngsten Tage. Unerbittlich stand er.

„Warum, warum!" schrie es auf in ihm.

Und siehe da, die Antwort löste sich vom Firmament mit unge-
heuren Flügclschlägen, rauschte auf ihn zu, sah ihm mit großen
Augen unausweichlich ins Gesicht, nah, näher, ganz nah: „Fei-er-
a-bend!"

Zwischen Erde und Himmel hängend kam ihm eine schrecklose Er-
kenntnis: Für den Feierabend hatte er gekämpft, den strikten Feier-
abend, den schwerterscharf geschliffenen Feierabend. Den Feierabend,
der maschinenehern einsetzt, der nicht rechts noch links sicht, ob dar-
über eine Welt in Trümmer geht. Den Feierabend, welcher einem

seiner besten Krieger jetzt den Kranz des Sieges auf die Stirne
drückte, den harten blauen Firmamentkranz über einem unbewegten
Wagen, an deffen Wand die angepreßten Muskeln seiner Arme heiß
und heißer wurden, bis aus ihnen Glühstahl wurde, der vibrierte —
indes sich in den zehn Sekunden, seit der Wagen stillstand, Ewig-
keiten dehnten.

Langsam wandte er den Kopf nach rückwärts: „Lau-fen laf-fen!" .

Den Zickzackweg dort hinten war der Wächter schon hinabgelaufen
zum Maschinenhaus: „Frowein, laufen kaffen, lau-fen laf-fen!"

Mit gesenktem Kopf stand Frowein dort am Schaltbrctt vor dem
Messinghebcl: „Zugseil eingeschaltet."

Die Hand fuhr ans Metall, der Kopf riß sie zurück: Ha, eine
Falle — Dunkel will mich auf die Probe stellen — auf die Liste
setzen lasten — fliegen laffen — fliegen — „Lau-fen la-a-as-sen!"

„Halt die Gosch, meinst, ich durchschau euch nicht!"

Jetzt schoß der Wärter in die Türe, schlitterte über die glatten
Fließen des Maschinensaales, schlug hin, hob beschwörend seine
Hände, flehend ein verzerrt Gesicht: „L-l-l-laufen l-l-la-la-!"

Unterdesien, an den Wagenrand geklebt, schrie's zum letzten Male
heiser, gurgelnd aus der Brust: „Lau-fen laf-fen!"

Der Wagen stand.

Auf die Seite neigte sich der Kopf. Gekreuzigt, an das starre
Dogma feines eigenen Lebens, hing ein Mensch. Sein Auge brach.

Aus der Tiefe griff s herauf. Nicht mehr gräßlich. Nein, wie eine
Mutter greift nach ihrem müdgehetzten Kind, barmherzig, voll der
Güte, sanft den Krampf verschwielter Hände lösend: „F-e-i-e-r-
a-b-e-n-d, komm."

Von ferne sah cS aus, als tropfe langsam, dann in Sehnsucht
schnell und schneller, ein müder Regentropfen an das Muttcrherz
der Erde —

R-r-ruck! der Wagen ob der Tiefe knarrte, schwankte, glitt erst
langsam, dann graziös und leer ans andere Ufer.

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Otto Albert Hirth: Vor der Seereise
 
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