*
Vogel ist sie nicht,
denn sie hat keine
Flügel. Sie geht auf-
recht wie ich und kann
reden wie ich. Sie hat
Freude an den Blu-
men und Früchten wie
ich. Sie ist mein zwei-
tes Ich, mein Du.
Wie sonderbar das ist.
Und er erstaunte aber-
mals. Es war das an-
genehmste Erstaunen,
das er bisher kennen-
gelernt hatte. Warum
aber war es so ange-
nehm? Darüber mußte
er wiederum eine gute
Weile gründlich Nach-
denken.
„Du," sagte Eva
mitten in sein Grübeln
hinein, „dort drüben
sind welche, die sind
noch besser, viel schö-
ner." Und sie wies auf
einen mächtigen Baum,
der ganz allein auf
einer besonders schö-
nen Blumenwiese stand
und voll von großen
dunkelroten Äpfeln
hing.
„Warum besser?"
fragte Adam; er hatte
es immer mit dem
Warum.
„Weil sie schöner
sind," beharrte Eva.
„Die gute Schlange
bat es mir gesagt."
Was die Schlange ihr sonst noch gesagt batte, verschwieg sie. Er
wird es dann schon merken, dachte sie, was gut und böse ist, und mir
danken.
Adam betrachtete den Baum genau, dessen hochgewölbte Krone
mit ihrer Pracht und Herrlichkeit alle anderen Bäume in den Schat-
ten stellte. Er trug Blüten und Früchte zugleich, und eine heimliche
Musik schien in ihm zu tönen. Der weiche Wind trug sie auf seinen
Schwingen schmeichelnd bis zu ihnen herüber.
Eine seltsame Bangigkeit umflorte Adams Gemüt. Er ward un-
ruhig, stand aus und dehnte die jungen Glieder. Er wußte nicht,
was es war, das ihn bedrückte. Es war in ihm, wie eine ferne
Stimme, die er wohl vernahm, aber nicht verstehen konnte. Es war
eine Erinnerung an etwas Großes und Gebieterisches. Und siehe:
plötzlich vernahm er die Stimme klar und gewaltig, die Stimme des
Herrn, wie sie in seinem Halbschlaf zu ihm gedrungen war. Und
nun wußte er es: der Herr hatte ihnen alles zu eigen gegeben im
Paradiese bis auf diesen einen Baum.
Adam wandte sich zu Eva. Sie hatte ihren Kranz vollendet und
auf ihr Haupt gesetzt. Mit großen Augen schaute sie zu ihm auf.
„Nein," sagte Adam, „sie sind ja verboten. Der Herr hat's ver-
boten. Der Vater ist streng und gerecht. Er weiß alles besser als du
und ich und die Schlange."
„Was ist das: verboten?" fragte Eva unschuldig und steckte eine
Blume in den Mund.
Adam überlegte. Die Antwort ward ihm schwer. „Es tut weh,"
sagte er nach einer Weile langsam, und es wunderte ihn ob seines
eigenen Wortes, denn er wußte ja nicht, was wehtun ist.
„Es tut weh?" wie-
derholte Eva staunend.
„Das möchte ich wis-
sen. Das ist gewiß et-
was Schönes."
„Ich weiß es nicht,"
gestand Adam. „Ich
weiß nur, der Vater
hat es verboten. Und
wir müssen tun, was
der Vater gebietet."
„Er ist fort," sagte
Eva sinnend und sah
sich um, „weit fort. Er
ist nicht hier."
„Aber er sieht uns
auch aus der Ferne,"
erwiderte Adam be-
dächtig; er sieht alles."
„Ich sehe dich,"
lächelte Eva und ver-
schränkte die Arme
hinter dem Haupte,
„ihn aber sehe ich
nicht. Wie kann es
sein, daß er uns sieht?"
„Weil er der Herr
ist, der alles geschaffen
hat und alles durch-
schaut."
„Er hat den Garten
für uns geschaffen mit
allem, was in ihm ist.
Sieh nur, wie die
roten Äpfel leuchten!"
rief sie und sprang auf.
Der Kranz fiel ihr
vom Haupte ob der
ungestümen Bewegung,
und der Wind kräuselte
ihre goldblonden Lok-
ken. Wie schön sie ist, durchfuhr es Adam, sie ist schöner als alles,
was ich sehe. Und er umfaßte die holde Gestalt mit strahlendem
Blick. Aber sie ist anders als ich, sie hat andere Gedanken als ich,
dachte er weiter; und während er dies dachte, fühlte er den ersten
Schmerz. Darob erstaunte er von neuem.
Hand in Hand schritten sie leichten Fußes den Wiesenhang hinab
zur Quelle, die zwischen blinkenden Steinen verstohlen murmelte.
Ein gewaltiges Tier trat ihnen aus dem Gebüsch entgegen. Ee
war ein Löwe. Er hatte getrunken und schüttelte seine dunkle Mähne.
Adam und Eva hielten verwundert inne und betrachteten ihn ohne
Furcht. „Komm her!" ries Adam laut. Da kam der Löwe langsam
und edel einhergewandelt, setzte sich vor ihnen hin und leckte Adam
die Hand. Seine Zunge war rauh, doch Adam empfand die Lieb-
kosung und streichelte ihm die Mähne. Der Löwe, der noch nicht
ausgeschlafen hatte, öffnete den Rachen und gähnte mit tiefem Ur-
laut, daß das weite Tal erdröhnte. „Horch!" sagte Eva, „wie er
spricht. Nicht schön aber laut. Du mußt nicht so laut sprechen," fuhr
sie fort, und damit der Löwe verstehe, wie sie es meine, nahm sie den
Blumenkranz und wand ihn dem Löwen um die grimmige Schnauze.
Er hielt ganz geduldig still, und als Adam und Eva weiterschrittc»,
folgte er ihnen gehorsam auf dem Fuße nach.
Die Sonne stand hoch am blauen Himmel, und ein würziger
Wohlgeruch von tausend und abertausend Blüten erfüllte die warme
weiche Luft. Adam und Eva wollten den ganzen Garten Eden
durchwandern, aber wohin sie sich auch wandten, sie fanden kein
Ende. Tiere des Waldes und Tiere des Feldes trafen sie an und ver-
wunderten sich sehr über die Mannigfaltigkeit der Geschöpfe. Vögel
Theo Waidenschlager
Äuss einem Ov cifcbricfc. „... Wir waren ganz überwältigt von dem Anblick
der versunkenen Sonne. Leute, die uns da oben stehen sahen, behaupteten, wir hätten aus-
geschaut wie Hero und Leander, denen der Sturm die Fackel ausgelöscht hat."
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Vogel ist sie nicht,
denn sie hat keine
Flügel. Sie geht auf-
recht wie ich und kann
reden wie ich. Sie hat
Freude an den Blu-
men und Früchten wie
ich. Sie ist mein zwei-
tes Ich, mein Du.
Wie sonderbar das ist.
Und er erstaunte aber-
mals. Es war das an-
genehmste Erstaunen,
das er bisher kennen-
gelernt hatte. Warum
aber war es so ange-
nehm? Darüber mußte
er wiederum eine gute
Weile gründlich Nach-
denken.
„Du," sagte Eva
mitten in sein Grübeln
hinein, „dort drüben
sind welche, die sind
noch besser, viel schö-
ner." Und sie wies auf
einen mächtigen Baum,
der ganz allein auf
einer besonders schö-
nen Blumenwiese stand
und voll von großen
dunkelroten Äpfeln
hing.
„Warum besser?"
fragte Adam; er hatte
es immer mit dem
Warum.
„Weil sie schöner
sind," beharrte Eva.
„Die gute Schlange
bat es mir gesagt."
Was die Schlange ihr sonst noch gesagt batte, verschwieg sie. Er
wird es dann schon merken, dachte sie, was gut und böse ist, und mir
danken.
Adam betrachtete den Baum genau, dessen hochgewölbte Krone
mit ihrer Pracht und Herrlichkeit alle anderen Bäume in den Schat-
ten stellte. Er trug Blüten und Früchte zugleich, und eine heimliche
Musik schien in ihm zu tönen. Der weiche Wind trug sie auf seinen
Schwingen schmeichelnd bis zu ihnen herüber.
Eine seltsame Bangigkeit umflorte Adams Gemüt. Er ward un-
ruhig, stand aus und dehnte die jungen Glieder. Er wußte nicht,
was es war, das ihn bedrückte. Es war in ihm, wie eine ferne
Stimme, die er wohl vernahm, aber nicht verstehen konnte. Es war
eine Erinnerung an etwas Großes und Gebieterisches. Und siehe:
plötzlich vernahm er die Stimme klar und gewaltig, die Stimme des
Herrn, wie sie in seinem Halbschlaf zu ihm gedrungen war. Und
nun wußte er es: der Herr hatte ihnen alles zu eigen gegeben im
Paradiese bis auf diesen einen Baum.
Adam wandte sich zu Eva. Sie hatte ihren Kranz vollendet und
auf ihr Haupt gesetzt. Mit großen Augen schaute sie zu ihm auf.
„Nein," sagte Adam, „sie sind ja verboten. Der Herr hat's ver-
boten. Der Vater ist streng und gerecht. Er weiß alles besser als du
und ich und die Schlange."
„Was ist das: verboten?" fragte Eva unschuldig und steckte eine
Blume in den Mund.
Adam überlegte. Die Antwort ward ihm schwer. „Es tut weh,"
sagte er nach einer Weile langsam, und es wunderte ihn ob seines
eigenen Wortes, denn er wußte ja nicht, was wehtun ist.
„Es tut weh?" wie-
derholte Eva staunend.
„Das möchte ich wis-
sen. Das ist gewiß et-
was Schönes."
„Ich weiß es nicht,"
gestand Adam. „Ich
weiß nur, der Vater
hat es verboten. Und
wir müssen tun, was
der Vater gebietet."
„Er ist fort," sagte
Eva sinnend und sah
sich um, „weit fort. Er
ist nicht hier."
„Aber er sieht uns
auch aus der Ferne,"
erwiderte Adam be-
dächtig; er sieht alles."
„Ich sehe dich,"
lächelte Eva und ver-
schränkte die Arme
hinter dem Haupte,
„ihn aber sehe ich
nicht. Wie kann es
sein, daß er uns sieht?"
„Weil er der Herr
ist, der alles geschaffen
hat und alles durch-
schaut."
„Er hat den Garten
für uns geschaffen mit
allem, was in ihm ist.
Sieh nur, wie die
roten Äpfel leuchten!"
rief sie und sprang auf.
Der Kranz fiel ihr
vom Haupte ob der
ungestümen Bewegung,
und der Wind kräuselte
ihre goldblonden Lok-
ken. Wie schön sie ist, durchfuhr es Adam, sie ist schöner als alles,
was ich sehe. Und er umfaßte die holde Gestalt mit strahlendem
Blick. Aber sie ist anders als ich, sie hat andere Gedanken als ich,
dachte er weiter; und während er dies dachte, fühlte er den ersten
Schmerz. Darob erstaunte er von neuem.
Hand in Hand schritten sie leichten Fußes den Wiesenhang hinab
zur Quelle, die zwischen blinkenden Steinen verstohlen murmelte.
Ein gewaltiges Tier trat ihnen aus dem Gebüsch entgegen. Ee
war ein Löwe. Er hatte getrunken und schüttelte seine dunkle Mähne.
Adam und Eva hielten verwundert inne und betrachteten ihn ohne
Furcht. „Komm her!" ries Adam laut. Da kam der Löwe langsam
und edel einhergewandelt, setzte sich vor ihnen hin und leckte Adam
die Hand. Seine Zunge war rauh, doch Adam empfand die Lieb-
kosung und streichelte ihm die Mähne. Der Löwe, der noch nicht
ausgeschlafen hatte, öffnete den Rachen und gähnte mit tiefem Ur-
laut, daß das weite Tal erdröhnte. „Horch!" sagte Eva, „wie er
spricht. Nicht schön aber laut. Du mußt nicht so laut sprechen," fuhr
sie fort, und damit der Löwe verstehe, wie sie es meine, nahm sie den
Blumenkranz und wand ihn dem Löwen um die grimmige Schnauze.
Er hielt ganz geduldig still, und als Adam und Eva weiterschrittc»,
folgte er ihnen gehorsam auf dem Fuße nach.
Die Sonne stand hoch am blauen Himmel, und ein würziger
Wohlgeruch von tausend und abertausend Blüten erfüllte die warme
weiche Luft. Adam und Eva wollten den ganzen Garten Eden
durchwandern, aber wohin sie sich auch wandten, sie fanden kein
Ende. Tiere des Waldes und Tiere des Feldes trafen sie an und ver-
wunderten sich sehr über die Mannigfaltigkeit der Geschöpfe. Vögel
Theo Waidenschlager
Äuss einem Ov cifcbricfc. „... Wir waren ganz überwältigt von dem Anblick
der versunkenen Sonne. Leute, die uns da oben stehen sahen, behaupteten, wir hätten aus-
geschaut wie Hero und Leander, denen der Sturm die Fackel ausgelöscht hat."
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