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1924 /

J u ©

29. JAHRGANG

DER SCHREI AUS

VON R EI NH

„Hier ist meine Heimat — " sagt Fredemann zu sich, indem er,
im Gras auf der Anhöhe liegend und den Kopf schwer in die Hände
gestützt, umherblickt. Er sagt eS, als ob er sich selbst überzeugen
müsse, dass es so sei — —

Hügel wellen weit in den Abenddunft. In der Talsohle schlängelt
sich blaublitzend der Fluß. Häuser, weißkalt mit dunklen Fachwerk
strichen, sind im Gelände sparsam verstreut. DaS ferne Wiesengrün
ist mit dunklen Punkten übersät —; feierlich füllt das Läuten der
Kuhglocken die Stille.

„Hier ist meine Heimat!" nickt Fredemann sich Bestätigung zu.
Ja, dort hebt sich deutlich erkennbar das massigbreite Gutshaus seiner
Vorfahren aus dem Ouaderfteinunterbau eines zerstörten Schlosses.
Die Kellerfenfter haben noch die Form von Schießscharten. Grund-
herrlich-stolze Geschlechter haben Fredemanns Namen durch Jahr-
hunderte getragen und ihn als höchstes Gut vererbt — schließlich
als einziges. So haben spätere Träger mit dem Adel das Herren-
tum lassen müssen, um in den Städten als Kaufleute neuen Reich-
tum zu erwerben —; aber die Gradnackigkeit des Erbeingesessenen
ist nur aus wenigen gewichen.

Und alle haben Frauen aus diesem harten Lande genommen. Nur
Fredemanns Vater ist dem Bann dieser zarten Landfremden ver-
fallen, die dann — und das hat keinen verwundert — drei lebens-
unfähige Kinder gebären mußte, ehe sie an der Geburt des vierten,
das sich behauptete, langsam hinsiechend starb. Fredemann ist dies
Kind. Und von den Leuten da unten im Gutshaus sind manche heim-
lich der Meinung, daß er kaum lebensfähiger sei als seine toten

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NR. 22

DER DÄMMERUNG

RD KOESTER

Geschwister, da er keinerlei Neigung verspürt, seinem Leben in dieser
sehr wirklichen Welt einen sicheren Grund zu schaffen, sondern planlos
sein Erbe auszehrend dahinlebt. Und ein Mensch, der im Anblick
seiner Heimat nicht freudig-sicher weiß, daß sie es ist — — — ?

In Fredemann war immer der Trieb in die großen Städte —
aber nicht, um sich dort in gesteigertem Daseinskampf über die Masse
emporzuschrauben, sondern nur, um sich treiben zu lassen, als lässiger
Zuschauer den Gang des großen Räderwerkes zu beobachten und sich
immer mehr der Wirklichkeit zu entfremden. Und wozu diese sinn-
lose Verschwendung? Fredemann lächelt auf jedes „Warum" und
„Wozu". Er will nichts wissen von Gründen und Zwecken. Und wenn
er kämpft — so einzig um etwas, was seine Vorfahren kampflos
besaßen—: um die Sicherheit allen Geschehnissen gegenüber, um die
Herrschaft über sich selbst. Dies aber wiederum in einer Art, die den
Menschen da unten gänzlich fremd ist und sinnlos erscheinen muß —:
indem er sich planlos verschwendet. Ist das nicht äußerste Schwäche?
Fredemann gibt das lächelnd zu: „Ich bin nicht stark wie Ihr — "
Aber wie er es sagt, klingt es hochmütig und aufreizend.

Hier hat ein Ausläufer des Geschlechts sich plötzlich weit vom Stamme
entfernt und jede Verbindung verloren. Nur das Blut bindet noch
— das müdgerollte Blut alten Geschlechts. Und auch das ist land-
fremdem, artfremdem vermischt.

„Hier ist nicht meine Heimat!" murmelt Fredemann jetzt. „Nur
ein Teil meines Menschen war hier verwurzelt — und diese Wurzel
ist abgestorben und verdorrt. Freilich auch in dem südlich-sonncn-
gefüllten Bergland, in dem die Väter meiner Mutter Wein bauten,

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Begrüßung F. M. Pfeiffer

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Index
F. M. Pfeiffer: Begrüßung
Reinhard Koester: Der Schrei aus der Dämmerung
 
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