Rinder auf der Weide F. Winkler
aller. Das Rauschen des Laubes hoch oben dringt wie geheimnis-
volles Flüstern durch's Fenster. Es dunkelt. Der Vater liegt tief
in das Polster gelehnt mit geschloffenen Augen. Fredemann ist sehr
allein. Nun tauchen weiße Häuser aus silbernem Dunst.
Als der Wagen in die Einfahrt zum Gutshaus einbiegt, tönt in die
nur vom Knirschen der Räder gefüllte Stille dieser seltsame Schrei — :
klagend — oh, grauenhaft-qualvoll — weither und doch drohend-nah
— — Stutzen die Pferde nicht? „Holla — holla!" brummt der
Kutscher seine Beruhigungslaute. Das Kind hat den Arm des
Vaters umklammert, der schlaftrunken auffährt.
„Wer schrie da — — ?"
„Schrie da jemand?" fragt der Vater gleichgültig-freundlich.
„Kein Mensch - -" sagt das Kind von tiefem Grauen ge-
schüttelt. „So dumpf - so bang - - so..." Der schmale Mund
formt sich rund, um den Ton nachzuahmen.
Da fährt der Wagen in scharfer Biegung an der Freitreppe vor
und hält. Licht vom Haus dringt durch den Schlag, der diensteifrig
aufgerissen wird. Und schon kommen Menschen mit flackernden Lich-
tern die Treppe hinunter. Bald steht Fredemann im weiten Vorraum
des Hauses und ist ganz von fremden Gesichtern umringt. Da sind
viel dunkle Augen voll einer Güte, die Entsagung gebiert und ver-
gessener Schmerz. Und harte kaltblaue in wetterzerknitterter Haut.
Und strenge prüfende, von denen unzählige Fältchen ausfließen —
viele hinter Brillen versteckt. Keine Jugend ist da.
Nachdem man sich eilig Gesicht und Hände gewaschen und die
Kleider gebürstet hat, ruft die Glocke zum Essen. Die klingt grabes-
dumpf durch die langen Korridore. Fredemann sitzt neben der Groß-
mutter, die ihm vorlegt und das Fleisch zerschneidet. Wenn sie ihn
ansieht, versucht sie ein Lächeln — aber das zerbrickt an ihren tiefen
spitzen Mundwinkeln. Um den vielen abtastenden Blicken der Ver-
wandten rings um den Tisch zu entgehen, sieht das Kind zu den
Wänden auf, an denen in gedrückten Reihen viel dunkle Bilder hän-
gen — — aber da starren aus steifen Halskrausen und würgcnd-hohen
Kragen die gleichen Gesichter — nur strenger noch, härter, kraftvoller.
Und die Frauen haben dasselbe zerbrochene Lächeln um den Mund —
auch die jungen süßblickenden — —
Die Augen des Kindes wandern ängstlich die Wand entlang bis
in die Ecke des Saales, wohin der Schein der Kerzen nicht mehr
dringt. Und es ist, als lauerte dort etwas Drohend-Geheimnisvolles.
„Großmutter, wer hat geschrieen, als wir zum Haus fuhren?"
„Hat jemand geschrieen?" fragt die Großmutter erstaunt und siebt
zu FredemannS Vater hin. Und da dieser nur lässig die Schultern
hebt: „Wer sollte geschrieen haben?"
Aller Augen sind überrascht, streng, forschend und mißbilligend
auf Fredemann gerichtet, denn an diesem Tisch spricht ein Kind nicht
ungefragt.
„Kein Mensch — " sagt das Kind zaghaft. „Oh, so traurig — "
„Eü wird eine Kuh im Stall gewesen sein, die schrie," meint der
Vater beruhigend.
„Nein, kein Tier — — "
Da poltert eine knarrende Stimme:
„Kein Mensch und kein Tier — wer soll dann geschrieen haben?!"
„Ich weiß nicht —: es schrie — —" DaS Kind hält eine Schüs-
sel, die ihm die Großmutter gereicht hat, ängstlich umkrampft. Aus-
blickend ist ihm, als wollten die dunklen Gestalten an der Wand
alle plötzlich den Mund weit auftun, um ihren erstorbenen Schmerz
ausströmen zu lassen in diesen einen qualvollen Schrei — — Die
Schüssel fällt - Scherben klirren.
Der Vater ist aufgesprungen.
„Er ist übermüdet," sagt er. Man ruft Lulla, die alte Amme und
Kindsmagd. Wieviel Kinder dieses Geschlechts haben sie Lulla ge-
nannt, weil die kindlichen Lippen den Namen Ludwig« nicht formen
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aller. Das Rauschen des Laubes hoch oben dringt wie geheimnis-
volles Flüstern durch's Fenster. Es dunkelt. Der Vater liegt tief
in das Polster gelehnt mit geschloffenen Augen. Fredemann ist sehr
allein. Nun tauchen weiße Häuser aus silbernem Dunst.
Als der Wagen in die Einfahrt zum Gutshaus einbiegt, tönt in die
nur vom Knirschen der Räder gefüllte Stille dieser seltsame Schrei — :
klagend — oh, grauenhaft-qualvoll — weither und doch drohend-nah
— — Stutzen die Pferde nicht? „Holla — holla!" brummt der
Kutscher seine Beruhigungslaute. Das Kind hat den Arm des
Vaters umklammert, der schlaftrunken auffährt.
„Wer schrie da — — ?"
„Schrie da jemand?" fragt der Vater gleichgültig-freundlich.
„Kein Mensch - -" sagt das Kind von tiefem Grauen ge-
schüttelt. „So dumpf - so bang - - so..." Der schmale Mund
formt sich rund, um den Ton nachzuahmen.
Da fährt der Wagen in scharfer Biegung an der Freitreppe vor
und hält. Licht vom Haus dringt durch den Schlag, der diensteifrig
aufgerissen wird. Und schon kommen Menschen mit flackernden Lich-
tern die Treppe hinunter. Bald steht Fredemann im weiten Vorraum
des Hauses und ist ganz von fremden Gesichtern umringt. Da sind
viel dunkle Augen voll einer Güte, die Entsagung gebiert und ver-
gessener Schmerz. Und harte kaltblaue in wetterzerknitterter Haut.
Und strenge prüfende, von denen unzählige Fältchen ausfließen —
viele hinter Brillen versteckt. Keine Jugend ist da.
Nachdem man sich eilig Gesicht und Hände gewaschen und die
Kleider gebürstet hat, ruft die Glocke zum Essen. Die klingt grabes-
dumpf durch die langen Korridore. Fredemann sitzt neben der Groß-
mutter, die ihm vorlegt und das Fleisch zerschneidet. Wenn sie ihn
ansieht, versucht sie ein Lächeln — aber das zerbrickt an ihren tiefen
spitzen Mundwinkeln. Um den vielen abtastenden Blicken der Ver-
wandten rings um den Tisch zu entgehen, sieht das Kind zu den
Wänden auf, an denen in gedrückten Reihen viel dunkle Bilder hän-
gen — — aber da starren aus steifen Halskrausen und würgcnd-hohen
Kragen die gleichen Gesichter — nur strenger noch, härter, kraftvoller.
Und die Frauen haben dasselbe zerbrochene Lächeln um den Mund —
auch die jungen süßblickenden — —
Die Augen des Kindes wandern ängstlich die Wand entlang bis
in die Ecke des Saales, wohin der Schein der Kerzen nicht mehr
dringt. Und es ist, als lauerte dort etwas Drohend-Geheimnisvolles.
„Großmutter, wer hat geschrieen, als wir zum Haus fuhren?"
„Hat jemand geschrieen?" fragt die Großmutter erstaunt und siebt
zu FredemannS Vater hin. Und da dieser nur lässig die Schultern
hebt: „Wer sollte geschrieen haben?"
Aller Augen sind überrascht, streng, forschend und mißbilligend
auf Fredemann gerichtet, denn an diesem Tisch spricht ein Kind nicht
ungefragt.
„Kein Mensch — " sagt das Kind zaghaft. „Oh, so traurig — "
„Eü wird eine Kuh im Stall gewesen sein, die schrie," meint der
Vater beruhigend.
„Nein, kein Tier — — "
Da poltert eine knarrende Stimme:
„Kein Mensch und kein Tier — wer soll dann geschrieen haben?!"
„Ich weiß nicht —: es schrie — —" DaS Kind hält eine Schüs-
sel, die ihm die Großmutter gereicht hat, ängstlich umkrampft. Aus-
blickend ist ihm, als wollten die dunklen Gestalten an der Wand
alle plötzlich den Mund weit auftun, um ihren erstorbenen Schmerz
ausströmen zu lassen in diesen einen qualvollen Schrei — — Die
Schüssel fällt - Scherben klirren.
Der Vater ist aufgesprungen.
„Er ist übermüdet," sagt er. Man ruft Lulla, die alte Amme und
Kindsmagd. Wieviel Kinder dieses Geschlechts haben sie Lulla ge-
nannt, weil die kindlichen Lippen den Namen Ludwig« nicht formen
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