weiß ich, was du gehört hast —: der
Sumpfmunkelmann war's, der dort unten
im Weiher wohnt. Der ist ganz schlam-
mig-schwarz Und schlangendünn. Frosch-
beine hat er und lange Arme mit spitzen
Krähenfingern. Und sein Kopf ist ein ein-
ziges großes Maul! Folgsame Kinder kann
er nie erschrecken. Wenn er aber ein
unfolgsames findet, steigt er plötzlich hoch
auf aus dem Weiher und schreit — wie
du es gestern gehört hast. Komm setzt."
Das Kind steht starr mit sckrcckbaft ge-
weiteten Augen. Und plötzlich reißt es sich
los von Lullas knochiger Hand — —:
da tönt — grauenvoll — klagend — weit-
her und doch gespenstisch-nah dieser selt-
same Schrei aus der Dämmerung — —
Fredemann hat die Arme hochgeworsen
und läuft von Entsetzen gehetzt dem Hause
zu. Auf dem Rasen bricht er zusammen.
— — Man findet das Kind im tau-
fcuckkcn Gras wild um sich scblagend und
schreiend in Phantasien. Und Lulla tot
auf der Bank. Der Kopf ist ihr schräg
auf die Schulter gefallen — die erlosche-
nen Augen sind starr auf den Weiher ge-
richtet. Fredemann fiebert, bis der Vater
ihn sortholt vom Gut und mit sich nimmt
in die Stadt. Man muß früh die Lampen
anzünden und die Läden schließen, ehe es zu
dämmern beginnt, denn das Kind wartet
sonst angstvoll und horcht — — — —
— — Und nun Haft du ihn wieder
gehört — den Schrei aus der Dämme-
rung — ?" fragt Karin, als Fredemann
seine Erzählung beendet hat. Sie fragt
leise und zaghaft wie ein Kind, das ge-
bannt am Mund eines Märchenerzählers
hängt. Aber ihre Frage stellt die Zeit
wieder her und wirft Fredemann in das
wirkliche Heute zurück. Sein starrer Blick
löst sich von der abendblauen Landschaft.
Lächelnd wendet er sich ihr zu:
„Ja. Zum ersten Mal wieder seit da-
mals, denn ich bin nicht wieder hier ge
wesen — in meiner Heimat — " Und,
indem sein Gesicht sich verschließt und sich
ihr entfremdet, achselzuckend: „Ich weiß,
du hast ihn nicht gehört. Und keiner von
denen „da unten" hört ihn. Und ihr habt
sicherlich Recht, wenn ihr fragt: „Kein
Mensch und kein Tier —: wer soll dann
geschrieen haben." Irgend einem Weltreisenden freilich, der aus
fremden Ländern viel unbegreiflichere Dinge erzählt, glaubt ihr auf's
Wort. Uns aber, die wir nur aus dem Alltag reisen — aus eurer
„wirklichen" Welt — traut ihr nicht über den Weg. Möchtest du
„Erklärungen" haben, Karin? Vielleicht besitzt noch irgend ein Bauer
eines der alten Stierhörner, auf denen man sich früher Zeichen gab
in großer Not — und alle paar Jahre packt einmal einen Burschen
die Laune, sich darauf zu versuchen — ? Was kümmerl's mich! Keine
Erklärung löst je wieder diesen Schrei des Uncrlöstfeins aus meinem
Leben. Nur: er schreckt mich nicht mehr. Dieser Schrei ist mir Schick-
sal geworden - und mich schreckt auch mein Schicksal nicht mehr -:
daö Schicksal nie erlösbarer Einsamkeit. Wäre ich ein Tier — und
nicht eingespannt in die Zwangsjacke europäischen Mcnschseins -:
glaub mir, ich schriee so tagaus nachtein! So aber — — schreibe ich
vielleicht einmal eine Novelle, in der in vielen schönen sauber ge-
A kos
stellten Worten vom „Schrei der Sehnsucht" oder vom „Todesschrei
deS sterbenden Lichtes" die Rede ist. Dann druckt man's — und die
Bürger, sie hören es gerne — — Und dennoch haben die „da unten"
Recht: Dichten ist nichts, was das Leben ausfüllt. Eher schöpft es
alles Leben aus, daß man leer wird und kein Mensch mehr ist — nur
der Schatten eines Menschen — oder vieler Menschen Schatten im
besten Falle. Wir sind die Gaukler, die da erfolgslüftern ausschreien,
das Schattenspiel, das sie auf die grell beleuchtete Leinwand zaubern
werden, sei schöner und größer als das wirkliche Leben — —: aber
heimlich schielen wir doch ncidvoll in den Zuschauerraum, wo die wirk
lich-Lebenden sitzen, die sich willig eine Weile hübsch betrügen lasten,
um befriedigt in ihre Wirklichkeit zurückzukehren. Willst du
gehen — ?"
Karin ist aufgestanden.
„Ich gehöre auch nicht zu denen „da unten"," sagt sie hart. „Ich
Die Kamelie
557
Sumpfmunkelmann war's, der dort unten
im Weiher wohnt. Der ist ganz schlam-
mig-schwarz Und schlangendünn. Frosch-
beine hat er und lange Arme mit spitzen
Krähenfingern. Und sein Kopf ist ein ein-
ziges großes Maul! Folgsame Kinder kann
er nie erschrecken. Wenn er aber ein
unfolgsames findet, steigt er plötzlich hoch
auf aus dem Weiher und schreit — wie
du es gestern gehört hast. Komm setzt."
Das Kind steht starr mit sckrcckbaft ge-
weiteten Augen. Und plötzlich reißt es sich
los von Lullas knochiger Hand — —:
da tönt — grauenvoll — klagend — weit-
her und doch gespenstisch-nah dieser selt-
same Schrei aus der Dämmerung — —
Fredemann hat die Arme hochgeworsen
und läuft von Entsetzen gehetzt dem Hause
zu. Auf dem Rasen bricht er zusammen.
— — Man findet das Kind im tau-
fcuckkcn Gras wild um sich scblagend und
schreiend in Phantasien. Und Lulla tot
auf der Bank. Der Kopf ist ihr schräg
auf die Schulter gefallen — die erlosche-
nen Augen sind starr auf den Weiher ge-
richtet. Fredemann fiebert, bis der Vater
ihn sortholt vom Gut und mit sich nimmt
in die Stadt. Man muß früh die Lampen
anzünden und die Läden schließen, ehe es zu
dämmern beginnt, denn das Kind wartet
sonst angstvoll und horcht — — — —
— — Und nun Haft du ihn wieder
gehört — den Schrei aus der Dämme-
rung — ?" fragt Karin, als Fredemann
seine Erzählung beendet hat. Sie fragt
leise und zaghaft wie ein Kind, das ge-
bannt am Mund eines Märchenerzählers
hängt. Aber ihre Frage stellt die Zeit
wieder her und wirft Fredemann in das
wirkliche Heute zurück. Sein starrer Blick
löst sich von der abendblauen Landschaft.
Lächelnd wendet er sich ihr zu:
„Ja. Zum ersten Mal wieder seit da-
mals, denn ich bin nicht wieder hier ge
wesen — in meiner Heimat — " Und,
indem sein Gesicht sich verschließt und sich
ihr entfremdet, achselzuckend: „Ich weiß,
du hast ihn nicht gehört. Und keiner von
denen „da unten" hört ihn. Und ihr habt
sicherlich Recht, wenn ihr fragt: „Kein
Mensch und kein Tier —: wer soll dann
geschrieen haben." Irgend einem Weltreisenden freilich, der aus
fremden Ländern viel unbegreiflichere Dinge erzählt, glaubt ihr auf's
Wort. Uns aber, die wir nur aus dem Alltag reisen — aus eurer
„wirklichen" Welt — traut ihr nicht über den Weg. Möchtest du
„Erklärungen" haben, Karin? Vielleicht besitzt noch irgend ein Bauer
eines der alten Stierhörner, auf denen man sich früher Zeichen gab
in großer Not — und alle paar Jahre packt einmal einen Burschen
die Laune, sich darauf zu versuchen — ? Was kümmerl's mich! Keine
Erklärung löst je wieder diesen Schrei des Uncrlöstfeins aus meinem
Leben. Nur: er schreckt mich nicht mehr. Dieser Schrei ist mir Schick-
sal geworden - und mich schreckt auch mein Schicksal nicht mehr -:
daö Schicksal nie erlösbarer Einsamkeit. Wäre ich ein Tier — und
nicht eingespannt in die Zwangsjacke europäischen Mcnschseins -:
glaub mir, ich schriee so tagaus nachtein! So aber — — schreibe ich
vielleicht einmal eine Novelle, in der in vielen schönen sauber ge-
A kos
stellten Worten vom „Schrei der Sehnsucht" oder vom „Todesschrei
deS sterbenden Lichtes" die Rede ist. Dann druckt man's — und die
Bürger, sie hören es gerne — — Und dennoch haben die „da unten"
Recht: Dichten ist nichts, was das Leben ausfüllt. Eher schöpft es
alles Leben aus, daß man leer wird und kein Mensch mehr ist — nur
der Schatten eines Menschen — oder vieler Menschen Schatten im
besten Falle. Wir sind die Gaukler, die da erfolgslüftern ausschreien,
das Schattenspiel, das sie auf die grell beleuchtete Leinwand zaubern
werden, sei schöner und größer als das wirkliche Leben — —: aber
heimlich schielen wir doch ncidvoll in den Zuschauerraum, wo die wirk
lich-Lebenden sitzen, die sich willig eine Weile hübsch betrügen lasten,
um befriedigt in ihre Wirklichkeit zurückzukehren. Willst du
gehen — ?"
Karin ist aufgestanden.
„Ich gehöre auch nicht zu denen „da unten"," sagt sie hart. „Ich
Die Kamelie
557