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H I P P E L E

Er ist Stationsdiener bei der Lokalbahn. Sein Vater war Sta-
tionsdiener bei der Lokalbahn. Sein Großvater war Stationsdiener
bei der Lokalbahn. Von seinem Urgroßvater weiß man's nicht genau.

Von meinem Fenster aus sah ich ihn zum erstenmal hantieren.
Er lud ein. Er lud aus. Er füllte Lampen auf. Er stellte Weichen.
Er machte Schlagbäume auf. Er machte Schlagbäume zu. Er half
einem stolpernden Mütterchen über das Geleise. Er durchlochte Fahr-,
karten. Er rollte ein Faß hinüber. Er band ein Bäumchen seines ‘
Gärtchens grader. Er streichelte eine Katze. Er redete mit einem
Hund. Er schlug einen Nagel in eine lose Latte. Er bewahrte Räder
auf. Er macht einen Scher; mit verregneten Ausflüglern. Er rangierte
einen Wagen. Und all das — meine Wanduhr kann S bezeugen — in
zusammen nicht ganz jener einen Viertelstunde, wo ich ihn zum ersten-
mal sah.

Da kam es mir vor, als kennte ich ihn seit Jahrzehnten.

Später sah ich das abgewetzte Schulterstück, womit er Wägen
stemmte. Da kam's mir vor, als kennte ich ihn seit Jahrhunderten.

Er hatte immer Zeit. Er strich nach Feierabend Zimmer an. Er
hing Winterfenster ein. Er deckte Dächer. Er flickte Blitzableiter. Er
befferte Fahnen aus. Er hieb Bäume um. Er spaltete Holz.

„Hippele, wann eigentlich hättet ihr einmal keine Zeit?"

„Wenn i Zeit Hab", sagte er rätselhaft.

„Hippele, wann eigentlich ist bei euch Feierabend?"

„Alleweil," schlenkerte er vergnügt die langen Arme. „Alleweil,
weil mi alles freut."

„Hippele", fragte ihn mein naseweiser Sohn, „warum gehen Sie
immer mit eingeknickten Knien?"

„Weil i für die nächste Arbeit immer no ein' Schnackler übrig
bhalt."

Als er solchermaßen an die vierzig Jahre Dienst getan, kam der
Stationsdiener von der nächsten Haltestelle hcrgerannt: „Hippele,
morgn werd gestreikt!"

„Scho recht."

„Hippele, wer net mitstreikt, iS a Schuft!"

„Scho recht."

„Hippele, wer morgn arbeit, den derschlagn mir!"

„Scho recht."

Am nächsten Morgen war der Bahnhof leer. Bis aus den Hippele.
Der lud ein. Der lud aus. Der stemmte Wägen. Der —

„Hippele, Hippele", sagte ich, „wenn ste's euch nur nicht entgelten
lasten!"

„I kann net anders", sagte er, sah auf die Uhr und stellte einen
Wechsel.

„Aber Hippele, es kommt ja gar kein Zug."

„Macht nix, aber Zeit is's, wo er kommen sollt", sagte er und
ließ den Schlagbaum herunter.

Feierndes Volk sammelte sich davor: „Hippele, mach auf, es ist
ja ein Unsinn, wo kein Zug kommt!"

„Recht habts, ein Unsinn is's, wenn kein Zug kommt."

Ein Arbeiterzug mit einer roten Fahne hielt vor dem Schlagbaum.
Der Führer war ein junger Mensch in der Arbeitsbluse. Er sah dem
Hippele ähnlich. Nur die durchwehte rechte Schulter fehlte.

„Vatta", schrie er, „auf mit dem Schlagbaum!"

Der Alte sagte nichts. Er schaute nach der Stationsuhr. Neun
Uhr fünfunddreißig. Neun Uhr sechsunddreißig war der Zug sonst fällig.

Eine Frau im Zuge lachte: „Er fürcht si do vor seim Vattern!"

„Vatta, du — du Sauhund!"

Hippeles Knie knickten ganz tief ein. Dann strafften sie sich kerzen-
grade. Er drehte ein Rad. Der Schlagbaum ging nicht auf. Es
knackte irgend etwas. Hippele schaute nach dem andern Schlagbaum,
stolperte hinüber, blieb plötzlich mitten auf den Schienen stehen, warf
lautlos einen Arm hoch, fiel um, war tot.

Es war neun Uhr sechsunddreißig. Ein unsichtbarer Zug war ein-
gefahren und hatte ihn mitgenommen. Fritz Müller-Partenkirchen

Das Mario netten Idealer in München

E. Enzlcr

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Index
E. Enzler: Das Marionettentheater in München
Fritz Müller-Partenkirchen: Hippele
 
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