„Sie hat Sie gerettet!" entgegncte ich ernst. Während wir schwei-
gend weitergingen, dachte ich lange über die merkwürdige Geschichte
nach. Ich konnte den Gedanken nicht los werden, daß da noch ein
vorläufig mir unbekanntes Etwas mitspielte, das er vielleicht selbst
nicht kannte. In Mentone fragte ich noch: „Haben Sie sie wieder-
gesehen?" „Nie mehr," antwortete er. „Hierher kommt Sie nicht
so leicht, sie fürchtet sich vor ihren Verwandten, die zur Zeit in Nizza
wohnen. Sehen Sie, wie sich alles ändert, ihre früheren Verteidiger
sind jetzt ihre schlimmsten Feinde! Deswegen bin ich gern hier, nicht
um zu spielen, wie Sie vielleicht geglaubt haben. Außerdem kann ich
hier die herrlichsten Aufnahmen machen. Es bringt leider Gottes
verdammt wenig; zu Zigarren reicht's nicht, wie Sie wissen; manch-
mal auch nicht zum Mittag!" —
Mehrere Wochen lang sahen wir uns nicht wieder; der zigeunernde
ehemalige k. u. k. Leutnant war in Mentone geblieben. Endlich er-
hielt ich im April, als ich eben im Begriffe war, meine Sachen zu
packen, einen Brief von ihm. Er bat mich in seinem Schreiben, ihn
doch im Cafe de Paris um eine bestimmte Zeit zu erwarten. Pünkt-
lich stellte ich mich ein, herzlich froh darüber, daß es ihm, dem ver-
abredeten Rendezvousplatz nach zu schließen, besser ging. Bald er-
schien er denn auch in demselben Anzug, den er immer trug und
überreichte mir feierlichst die geliehenen zehn Franken. Dann be-
stellte er beim Kellner eine Flasche besseren Landweins und bat mich
gewohnter Weise um eine Zigarre. Dann sagte er mit erhobener
Stimme: „Ich habe eine nicht unangenehme Nachricht erhalten.
Sie ist tot, in Abbazia ist sie gestorben. Das Merkwürdigste ist, daß
sie mich zu ihrem Erben eingesetzt hat. Die eine Rate habe ich schon
erhalten. — Jetzt kann ich Ihnen auch gestehen, weswegen ich mich
eigentlich hier herumtreibe. Weil ich trotz meines Schwabenalters
mich verliebt habe." Er zeigte mir die verblichene Photographie einer
hübschen jungen Dame. „Erft jetzt darf ich an Heirat denken; Schei-
dung hätte mir auch heute noch nichts genützt!" Er sah vor sich hin.
„Ich fühle mich so frei und froh gestimmt, als ob die Zeit des
Elends jetzt für immer vorbei wäre! Lassen Sie uns ins Kasino
gehen, ich will gewinnen!" Ich mußte über den seltsamen Heiligen
lachen, der damit sein neues Leben einweihen wollte. In den Spiel-
sälen wirkte das Stimmengewirr der zahlreichen Besucher, das
Klingen der hin- und herfliegenden Silber- und Goldstücke sichtlich
verwirrend auf ihn. Offenbar hatte er noch nie gespielt. Verschiedene
Male trat er an einen Tisch, ohne ein Stück zu setzen. Erst nach ge-
raumer Zeit sah ich, wie er zögernd bei Drents et c>uarante ein
Zwanzigfrankenstück auf Rouge legte. Er gewann, zog hastig die
beiden Goldstücke ein und kam zu mir. „Auf so leichte Weise habe
ich noch nie zehn Gulden verdient!" sagte er lächelnd, aber etwas
verlegen. Seit der Zeit sah ich ihn zu jeder Tagesstunde im Spiel-
saal. Mich interessierte die Beobachtung dieses seltsamen Charakters,
.
--
,“Cv
Weg in Polen
Hugo Walzer
584
gend weitergingen, dachte ich lange über die merkwürdige Geschichte
nach. Ich konnte den Gedanken nicht los werden, daß da noch ein
vorläufig mir unbekanntes Etwas mitspielte, das er vielleicht selbst
nicht kannte. In Mentone fragte ich noch: „Haben Sie sie wieder-
gesehen?" „Nie mehr," antwortete er. „Hierher kommt Sie nicht
so leicht, sie fürchtet sich vor ihren Verwandten, die zur Zeit in Nizza
wohnen. Sehen Sie, wie sich alles ändert, ihre früheren Verteidiger
sind jetzt ihre schlimmsten Feinde! Deswegen bin ich gern hier, nicht
um zu spielen, wie Sie vielleicht geglaubt haben. Außerdem kann ich
hier die herrlichsten Aufnahmen machen. Es bringt leider Gottes
verdammt wenig; zu Zigarren reicht's nicht, wie Sie wissen; manch-
mal auch nicht zum Mittag!" —
Mehrere Wochen lang sahen wir uns nicht wieder; der zigeunernde
ehemalige k. u. k. Leutnant war in Mentone geblieben. Endlich er-
hielt ich im April, als ich eben im Begriffe war, meine Sachen zu
packen, einen Brief von ihm. Er bat mich in seinem Schreiben, ihn
doch im Cafe de Paris um eine bestimmte Zeit zu erwarten. Pünkt-
lich stellte ich mich ein, herzlich froh darüber, daß es ihm, dem ver-
abredeten Rendezvousplatz nach zu schließen, besser ging. Bald er-
schien er denn auch in demselben Anzug, den er immer trug und
überreichte mir feierlichst die geliehenen zehn Franken. Dann be-
stellte er beim Kellner eine Flasche besseren Landweins und bat mich
gewohnter Weise um eine Zigarre. Dann sagte er mit erhobener
Stimme: „Ich habe eine nicht unangenehme Nachricht erhalten.
Sie ist tot, in Abbazia ist sie gestorben. Das Merkwürdigste ist, daß
sie mich zu ihrem Erben eingesetzt hat. Die eine Rate habe ich schon
erhalten. — Jetzt kann ich Ihnen auch gestehen, weswegen ich mich
eigentlich hier herumtreibe. Weil ich trotz meines Schwabenalters
mich verliebt habe." Er zeigte mir die verblichene Photographie einer
hübschen jungen Dame. „Erft jetzt darf ich an Heirat denken; Schei-
dung hätte mir auch heute noch nichts genützt!" Er sah vor sich hin.
„Ich fühle mich so frei und froh gestimmt, als ob die Zeit des
Elends jetzt für immer vorbei wäre! Lassen Sie uns ins Kasino
gehen, ich will gewinnen!" Ich mußte über den seltsamen Heiligen
lachen, der damit sein neues Leben einweihen wollte. In den Spiel-
sälen wirkte das Stimmengewirr der zahlreichen Besucher, das
Klingen der hin- und herfliegenden Silber- und Goldstücke sichtlich
verwirrend auf ihn. Offenbar hatte er noch nie gespielt. Verschiedene
Male trat er an einen Tisch, ohne ein Stück zu setzen. Erst nach ge-
raumer Zeit sah ich, wie er zögernd bei Drents et c>uarante ein
Zwanzigfrankenstück auf Rouge legte. Er gewann, zog hastig die
beiden Goldstücke ein und kam zu mir. „Auf so leichte Weise habe
ich noch nie zehn Gulden verdient!" sagte er lächelnd, aber etwas
verlegen. Seit der Zeit sah ich ihn zu jeder Tagesstunde im Spiel-
saal. Mich interessierte die Beobachtung dieses seltsamen Charakters,
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Hugo Walzer
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