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1924 / Heft 25

J U G E N

2 9. Jahrgang

DER FILM DES TODES

NOVELLE VON WILLY SEIDEL / O R IGI N A L S C H N I T T E VON OTTO NÜCKEL

nd ich sage Ihnen, meine Herren,
ein Satanöbengel ist das für feine
fünfzehn Jahre, ein Draufgänger, ein
Tausendskerl, ein famoser Bursch!" Die
runde, kräftige Faust des Doktors fiel
mit schußähnlichem Geräusch auf den
Tisch, so daß die Batterie der bereits ge-
leerten Rotweinflaschen erklirrte. Für
Sekunden verschwand sein gesundes,
strotzendes Gesicht mit dem graumelierten
Lockenkopf in dem Zigarrenqualm, der
ihm aus den stolz gerundeten, saftigen Lippen schoß. Man befand
sich in einer versteckten Weinstube im Herzen Berlins der allerjüng-
sten Gegenwart. Ein paar gesetzte Herren von würdigem, zur Zeit
etwas schwankendem Aspekt hatten sich ein gelegentliches Stelldichein
gegeben, da sie aus demselben Städtchen stammten und teils in Ber-
lin selbst, teils in den Vororten zweckmäßige Berufe erwählt hatten
und ausübten.

Als der beliebte Arzt das Thema solchermaßen aus unsicheren Re-
gionen in die geschützte Hürde der Familienweide lockte, gerieten die
anderen Köpfe in ein beifälliges Wiegen, und von nun ab kam man
auf die Söhne zu sprechen. Sie wurden in der Luft mit den Händen
modelliert und dann zur Betrachtung gleichsam auf den Tisch gesetzt,
die Satansbengel. Über jede der massigen Schultern blickte verstohlen
aus dem Tabaknebel heraus ein blühendes Gesicht, auf dem zarte
Farben leuchteten: Farben der Gesundheit, Farben des Wohlbefin-
dens und netter, sorgloser Jugend. Und in den rauhen Zusammen-
klang der väterlichen Stimme hinein klangen andere, vom Tonfall
der alten zwar, aber heller, kecker und spontaner. Die zweite Gene-
ration — offenbar ein Geschlecht, das zu großen Erwartungen be-
rechtigte — stand als blühende Trutzwehr hinter den älteren. Die
Stimmen wurden heiserer, wurden zum Hymnus an den gesegneten
Fortbestand. Doktor Fischer, der beliebte Arzt, hatte das Wort
wieder an sich gerissen, und zum Schluß erhob er sich zu einem don-
nernden Toast. Sechs Gläser schwankten in der Lust, klirrten an-
einander, und sanken exakt geleert, mit einem wuchtigen Ton auf den
Tisch zurück.

Ein GlaS fehlte diesmal, und um seinen Fuß schloß sich eine
gelbe, dürre Hand wie eine unbewegliche Klammer. Der greise Land-
rat a. D. Ottokar Freiherr von GrieSeck, nun ja, der brauchte auf
keinen Erben zu toasten. „Hallo!" schrie man; „Baron, ermuntern
Sie sich!" Der Greis sah trübselig und finster in den Kreis der
animierten Gesichter hinein. Sein Antlitz war gelb und sah ganz alt
aus, uralt, von feinen Runzeln ganz bedeckt, und seine Hakennase
schnupperte in den Duft des Glases, das er fast sachte mit einer fast
zeremoniellen Bewegung erbob. Er war nicht mehr nüchtern. Die
vierte Flasche saß bereits, halb zu Geist aufgelöst, lächelnd um sein
Herz. Der Rotwein hatte sein vertracktes, schon halb stagnierendes
Blut zum Sausen gebracht; doch dieses Sausen war eine innere
Temperaturauslösung und gab sich nur in seinen schwimmenden
blassen Augen kund ... Man war auch nicht mehr in der Lage dazu,
irgendwelche Beobachtungen über ibn anzustellen; man hatte ihn
überhaupt fast vergessen. Er war nicht unsympathisch, aber von jeher
sehr reserviert. Zuerst hatte er noch ein paar Bemerkungen gemacht,
aber als dann später daö Gespräch auf Familie und Söhne kam,

hatte er sich uninteressiert eingekapselt und nur schweigend seine
Margaux-Flasche genossen, mit Liebe und Luxus in der Geste; —
ach Gott, so ein alter Mann; so ein ausgemachter Hagestolz!

Nun erhob sich der Baron und sagte „Adieu!" „Was, Sie gehen
schon, Baron?" schrie der Doktor Fischer. „Jawohl, ich finde allein
ins Hotel." „Na, geraten Sie nur nicht daneben!" Man lachte ge-
räuschvoll. „Sie haben am Ende noch was vor?!" — „Nein," sagte
von GrieSeck streng. „Ich habe nichts mehr vor." Er hatte seinen
Pelz erhalten und zahlte. „Aber lassen Sie sich nicht im geringsten
durch meinen Abschied inkommodieren!" — Und nach einem kurzen
Kampf mit der Drehtüre befand er sich auf der Straße.

Zunächst stand er noch unbeweglich vor dem Eingang auf dem
Trottoir. „So, so, siehst du," dachte er, „das ist also wieder einmal
Berlin." Seine leicht rötlich unterlaufenen Augen, die bei der Kälte
voll Tränen schossen, starrten nach vorne. Die stille abgelegene
Straße, in der er stand, mündete in eine lebhaftere, und weiter,
wiederum durch ein paar Straßen getrennt, schwoll und pulste fernes
Getöse, kroch durch die Häuserzüge, schickte schwache und lockende
Wellen, vielfach gebrochen, bis zu ihm herüber: Blut aus dem Her-
zen Berlins. Ihm war, als seien alle Hausfronten in einem barocken
stummen Marsch begriffen, in den von Bogcnlicht durchtränkten Ne-
bel hinein, in dem das Zentrum steckte. Irgend etwas zog an ihm:
war es das große Geräusch, das er von dort ahnte? — Er ging vor-
wärts, mit einem schwebenden Gefühl. „Ich will mich ein wenig
treiben lassen," sagte er zu seinem alten Leib, zu seinem sanft er-
wärmten Herzen. „Ich habe nichts zu versäumen, gar nichts... In
der Tat, meine Lage ist befremdlich; jetzt bin ich der Letzte meines

Namens; die mir nahe standen, sind nun alle tot und verschollen!
Ich bin allein, ein Unikum, ein treibendes Wrack, das nächstens zer-
schellen wird; und das, was ich hinterlasse, ist ein sekundenlanger
Schaumwirbel über dem versinkenden Namen, kaum erkennbar aus
der herzlos flutenden Zeit!... Was habe ich schließlich mit den Leu-
ten da drinnen noch gemeinsam? Im Grunde nichts! Sie rücken eine
zweite tapfere Garde ins Feld, gesunde Söhne, rotbackige, rücksichts-
lose Ebenbilder ihrer rücksichtslosen Erzeuger, von diesen als Taschen-
spiegel hervorgeholt, wenn das Bedürfnis herrscht, sich als komplett,

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Index
Willy Seidel: Der Film des Todes
Otto Nückel: Illustrationen zum Text "Der Film des Todes"
 
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