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als seßhaft und daseinsberechligt zu empfin-
den. Dann werfen sie sich in die Brust,
stoßen Luft hervor und zechen, während sich
ihre weinblanken Blicke wie Waffen kreu-
zen. Wunden vertragen diese Plebejer ja;
sie haben gesunde Verdauung; und ihre
Söhne, die haben das alles geerbt!"

Er stand jetzt an einer Biegung, wo ihm
ein greller Lichtschein entgegendrang. Als
er um die Ecke bog, fuhr ihm ein eiskalter
Finger in den Pelzverschluß am Hals; es
war, als kitzelte ihn jemand derb am
Schlüsselbein, und ein Schauer rieselte ihm
in die Knochen. Gleichzeitig hörte er ein
leises, geborstenes Kichern und sah noch,
als er sich umdrehte, eine große, dunkle Ge-
stalt mit wallendem Überwurf hinter der
Ecke verschwinden. Ein kleiner Schreck,
wie eine plötzliche Herzstockung, befiel ihn;
doch lag das Erschreckende, wie er gleich
darauf erkannte, nur in der abergläubischen
Nervosität, mit der er von der Wirkung
auf die Ursache schloß. Das Kältegefühl
hielt an: kein Wunder, denn ein steifer
Nordost blies ihm in den Spalt der Astra-
chanausschläge seines Mantelkragens hinein.

Der Mantel war neu geliefert; der
Schneider war ein Stümper! „Ich werde
in Zukunft zu Bockmüller gehen, der ist
renommierter," dachte er in lässiger Wut.

„Der Doktor Fischer läßt längst bei ihm
arbeiten; und der Doktor Fischer ist mit
der Mode ganz auf dem laufenden!" Er
suchte mit konfuser Hand nach dem Verschluß, doch fand er ihn nicht.
So preßte er die Hand dagegen und ging erbost weiter. — „Nicht
so zimperlich!" dachte er. „Ein wenig Luft, das schadet nichts!" Er
wurde nun auch davon abgelenkt, denn er war in einen Menschen-
ftrom geraten und spürte, wie er von Licht, von Stimmengewirr, von
dem Geräusch der Schritte und Stöcke und von der breiten, von
Menschendunft durchschwängerten Woge der Weltstadt überschwemmt
und fortgetragen ward. Neben ihm, hinter ihm, hart an den Rand-
stein gelenkt, federten die Kraftwagen vorüber; die Hupen, drei-,
vierfach zugleich aufheulend, trieben Lücken vor sich in den Strom,
die sich blitzschnell schlossen und wieder auftaten; die dicht hinterein-
ander gekeilten elektrischen Wagen der Stadtbahn krochen unter end-
losem Geklingel wie große Raupen mit glänzenden Leibsegmenten in

der Ferne vorbei. Der Landrat schloß die Augen zur Hälfte und ließ
sich schieben. Auf einmal stand er auf einer Asphaltinsel des Pots-
damer Platzes. Der Rotwein sang in ihm und füllte sein ganzes

Wesen mit einer sanften Glut, einem träu-
merischen Fatalismus. Der Wein hatte ihn
befähigt, wie ein Mondsüchtiger schier in-
stinktiv die richtigsten und sichersten Schritte
durch diesen Wust von Passanten und Fahr-
zeugen zu tun, als ein Gefeiter hindurchzu-
wandeln ohne Aufenthalt, wie unter dem
Druck eines dunklen Auftrages. Als er nun
daftand und sich umsah, blickte er in das
Panorama der netzartig verzweigten Stra-
ßen, in all die lichtschwärenden Schluchten,
in denen das Leben fieberte und rumorte;
er sah hoch darüber die farbigen Trans-
parentreklamen aufblitzen und rotieren; er
sah in das Meer von Glühkörpern, in die
Bogenflammen, die Funken spien, daS kalk-
weiße Licht der Wolfram-Birnen hinter den
Barfenstern; er hörte aufjammcrnde Pfiffe
abgehetzter Maschinen und hörte den gro-
ßen Eisenton vom Bahnhof her, mit selt-
sam geschärftem Gehör, als schwebe er un-
körperlich im Raum, wie ein elastischer
Ball von Äther und Geist, mit dem all
die brutalen Geräusche Fangball spielten.
Dann senkte er die Augen, und plötzlich
fühlte er sich wie einen frierenden, versto-
ßenen Hund im Strudel des Verkehrs; ^
tat einen Blick in sein Inneres, und es
starrte ihn plötzlich an, blind und taub, wie
eine bodenlose Gruft. Langsam drehte er
sich um und musterte die Passanten, mit
einem jähen Wunsch, menschliche Züge zu
sehen! Überall sah er blinzelnde, übernäch-
tige Augen; all die Gesichter waren seltsam nackt. Da ging er wie
ein schwaches Kind, den Stock mit der Nashornkrücke ungleichmäßig
vorwärtssetzend, über den Platz. So erreichte er die Potsdamer
Straße, und das Gefühl der Taubheit und Leere ging mit ihm, er
steckte in einem Fluidum von Überdruß und das grelle Leben strömte
unbeteiligt an ihm vorüber.

„Ach, wenn ich doch jetzt nicht so ganz allein wäre, ich könnte
mich noch diesen Abend meines Lebens freuen!" dachte er. „Ich bin
nun völlig pa88e. Irgendeine warme, feste Hand, und nur zu ge-
legentlichem Druck! Aber ich bin ein weinerlicher und abergläubi-
scher Kerl..." Er geriet in eine Gruppe von Kokotten, die ihre
kolossalen Federhüte zusammendrängten. Eine von ihnen hielt eine
hastige Rede. Sie verstummte plötzlich, und der Landrat verspürte
den Druck von widerlich weichen Ellenbogen an beiden Armen.
„Nein, meine Damen," sprach er mit leiser Stimme, „wir müssen
unö heute schonen; ich habe mich erkältet; mein Pelz schließt nicht
gut; sehen Sie, hier! Überzeugen Sie sich, bitte!" Er hörte ein
amüsiert-bedauerndes Gurren und ein schnell zerplatzendes Geläch-
ter... dann war er wieder allein und bohrte sich stumm eine Gasse.
„Es ist wahr," dachte er, „es ist wirklich wahr, wen» ich jetzt sterbe,
gibt es nicht einmal mehr ein Tier, das an mich denkt. Nicht ein-
mal einen kleinen dicken Hund gibt es! Es braucht ja keine schöne
schlanke Frau zu sein, die sich wundert, warum ich nicht nach Hause
komme; eS braucht ja kein Kind zu sein, obwohl cS hübsch wäre,
einen kleinen Ottokar zu besitzen, der feste Fäuste hat... Ich werde
noch etwas trinken; vielleicht ist das ein Trost." Eine verhangene
Tür lockte ihn, aus der es schrillte. Er trat ein und setzte sich im
Mantel irgendwo in eine Ecke, stumpf, teilnahmslos. Ein Mulatte
in einem roten Frack stellte ein schillerndes Getränk vor ihn hin. Die
Geigentöne im Hintergrund vcrschwammen mit roten Farben, die
sich um ihn drehten. Er blickte auf weiße Hälse, an denen eS blitzte,
schwarze Köpfe, die aus klaffenden, zurückgeworfenen Mündern
heisere Lachtöne emporwarfen, und obszöne Gesten mit verschränkten
Fingern und zuckenden Knien ... Dies alles sah er, und die Kälte
wollte nicht weichen. Er blickte wie durch einen Frostnebel auf sinn-
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Otto Nückel: Illustrationen zum Text "Der Film des Todes"
 
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