Masurische Landschaft
Jul. Freymuth
hinein und setzte sich. Es war sehr still, wie in einer Gruft; eine laue
Wärme herrschte. Jetzt klang eine leise Ouvertüre, doch die Spielen-
bcn waren verborgen. Die Töne gebaren sich gleichsam aus dem
Dunkel und schienen aus allen Ecken zugleich zu dringen. Es war eine
fatale, eine peinigende Musik; sie hatte keine faßbaren Motive, son-
dern bestand aus Akkordfolgen, die ermüdend auf- und abschwollen
und sich ohne Auflösung trag durcheinanderschlugcn; so, wie wenn
jemand unablässig weint und kein Ende seiner Trauer findet.
Nun ertönte hinter ibm in der Höhe ein leises Knacken; der Strom
wurde eingeschaltet, und der Apparat begann zu surren. Auf der
Gipswand erschienen die Worte:
„Die Ermordung des kleinen Ottokar"
Sensationeller Verwandlungstrick in vier Bildern.
„Das ist sicher etwas Abgeschmacktes!" dachte der Landrat schläfrig.
Die Musik spielte ein Kinderliedchen, eine jener Weisen von Dal-
croze, die alle Jugendzeiten hätten durchklingen sollen. Auf der GipS-
wand war zunächst alles grau, dann wurde eS heller, und die Kon-
turen von Gegenständen gewannen feste Form. Und auf einmal sah
der Landrat in die Tiefe eines Zimmers hinein. „Mein Gott," dachte
er, „dieses Zimmer kenne ich doch!" Zweifellos war es fein Zimmer;
da waren noch die strengen alten Möbel, der Spiegelaufsatz, der
Sekretär und die Kommode mit den bauchig vorspringenden, durch
perlmutterne Einlagen so unvergeßlichen Schubladen. An dem Griffe
hatte er sich einmal gestoßen, so daß er blutete! Und dort war der
Vorhang mit den verschlungenen Arabesken, hinter deren Gitter er
sich den silbernen Zauber unergründlicher Städte und Wälder
geträumt!
Jetzt regte sich etwas an dem Vorhang, ein Etwas, das er zu
spät entdeckte, als habe es sich in verschmitztem AnpasiungSvermöge»
bislang seinen Blicken entzogen. Da ward eS plastisch; daS war ein
Kind, ein neunjähriger Knabe, in einem ausgeschnittenen Leinen-
kittel, mit Gurt und breitkarrierten, weiten Hosen. Und dieser, nach
einigen verträumten Bewegungen, so, als wolle er langen, langen
Schlaf von sich schütteln, drehte sich um, blinzelte umher und ging
dann in den Vordergrund, an den schweren Tisch, an den gelehnt er
dem Zuschauerraum zugcwendet blieb. Und seltsam: dem einzigen Be-
sucher in der hinteren Sitzreihe sah er gerade ins Gesicht.
Er sah aus wie aus einer Dagucrrotypie geschnitten. Zweifellos
trug er nicht die neueste Mode, und fein Gesicht war etwas verwischt,
als habe man ihn jahrzehntelang versteckt gehalten und nun mit be-
greiflichen Mitteln frisch und beweglich gemacht. Und auf eine Art
beweglich, daß ihm nichts Puppenhaftes mehr anhing, daß er keine
geheimen Fäden vermuten ließ, und nicht im geringsten baumelte oder
mit toter Exaktheit abrupte Gesten vollführte, sondern so, daß er
völlig Fleisch und Blut schien und ein süßes Leben zeigte. Und als
der Landrat in die Augen sah, die so dunkel und ernst, ohne die ge-
jagte Haltlosigkeit in den Pupillen anderer kleiner Filmspieler, in
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Jul. Freymuth
hinein und setzte sich. Es war sehr still, wie in einer Gruft; eine laue
Wärme herrschte. Jetzt klang eine leise Ouvertüre, doch die Spielen-
bcn waren verborgen. Die Töne gebaren sich gleichsam aus dem
Dunkel und schienen aus allen Ecken zugleich zu dringen. Es war eine
fatale, eine peinigende Musik; sie hatte keine faßbaren Motive, son-
dern bestand aus Akkordfolgen, die ermüdend auf- und abschwollen
und sich ohne Auflösung trag durcheinanderschlugcn; so, wie wenn
jemand unablässig weint und kein Ende seiner Trauer findet.
Nun ertönte hinter ibm in der Höhe ein leises Knacken; der Strom
wurde eingeschaltet, und der Apparat begann zu surren. Auf der
Gipswand erschienen die Worte:
„Die Ermordung des kleinen Ottokar"
Sensationeller Verwandlungstrick in vier Bildern.
„Das ist sicher etwas Abgeschmacktes!" dachte der Landrat schläfrig.
Die Musik spielte ein Kinderliedchen, eine jener Weisen von Dal-
croze, die alle Jugendzeiten hätten durchklingen sollen. Auf der GipS-
wand war zunächst alles grau, dann wurde eS heller, und die Kon-
turen von Gegenständen gewannen feste Form. Und auf einmal sah
der Landrat in die Tiefe eines Zimmers hinein. „Mein Gott," dachte
er, „dieses Zimmer kenne ich doch!" Zweifellos war es fein Zimmer;
da waren noch die strengen alten Möbel, der Spiegelaufsatz, der
Sekretär und die Kommode mit den bauchig vorspringenden, durch
perlmutterne Einlagen so unvergeßlichen Schubladen. An dem Griffe
hatte er sich einmal gestoßen, so daß er blutete! Und dort war der
Vorhang mit den verschlungenen Arabesken, hinter deren Gitter er
sich den silbernen Zauber unergründlicher Städte und Wälder
geträumt!
Jetzt regte sich etwas an dem Vorhang, ein Etwas, das er zu
spät entdeckte, als habe es sich in verschmitztem AnpasiungSvermöge»
bislang seinen Blicken entzogen. Da ward eS plastisch; daS war ein
Kind, ein neunjähriger Knabe, in einem ausgeschnittenen Leinen-
kittel, mit Gurt und breitkarrierten, weiten Hosen. Und dieser, nach
einigen verträumten Bewegungen, so, als wolle er langen, langen
Schlaf von sich schütteln, drehte sich um, blinzelte umher und ging
dann in den Vordergrund, an den schweren Tisch, an den gelehnt er
dem Zuschauerraum zugcwendet blieb. Und seltsam: dem einzigen Be-
sucher in der hinteren Sitzreihe sah er gerade ins Gesicht.
Er sah aus wie aus einer Dagucrrotypie geschnitten. Zweifellos
trug er nicht die neueste Mode, und fein Gesicht war etwas verwischt,
als habe man ihn jahrzehntelang versteckt gehalten und nun mit be-
greiflichen Mitteln frisch und beweglich gemacht. Und auf eine Art
beweglich, daß ihm nichts Puppenhaftes mehr anhing, daß er keine
geheimen Fäden vermuten ließ, und nicht im geringsten baumelte oder
mit toter Exaktheit abrupte Gesten vollführte, sondern so, daß er
völlig Fleisch und Blut schien und ein süßes Leben zeigte. Und als
der Landrat in die Augen sah, die so dunkel und ernst, ohne die ge-
jagte Haltlosigkeit in den Pupillen anderer kleiner Filmspieler, in
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