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dem runden Gesichtchen ruhten, da brauste ihn eine Erkenntnis an,
wie sie in solcher Heftigkeit nur aus Verschollenem aufsteigt: das war
ja er selbst und kein anderer; er selbst in einer aussichtsreichen Periode;
dort oben stand seine eigene Person, sie war historisch geworden, sie
lächelte und tat sich etwas zugut darauf!

Ja, der Kleine lächelte und drückte dabei sein rundes Kinn in den
Halsausschnitt. Und dann drehte er sich plötzlich um und sah nach dem
Vorhang zurück. Dieser teilte sich und ein kleines Mädchen erschien,
in einem breiten, weißen Kleid mit dreifach übereinandergeschichteten
Volants und breit hervorlugendcn Höschen. Das war Lisbeth; auch
damit hatte es also seine Richtigkeit. Und nun spielten die Kinder
miteinander. Da, hast du nicht gesehen, zausten sie sich an den
Haaren; und der kleine Ottokar fiel mit dem Kopf — das sah man
deutlich — an den bewußten Schubladengriff... ei, wie sonderbar,
just dieser Augenlick war feftgehalten ... Und es zeigte sich auch im
folgenden, daß er bedeutsam war; denn die kleine Lisbeth hatte es
eilig, ein Tuch zu holen und den kleinen Ottokar mit einer ungemein
tatkräftigen Mütterlichkeit zu verpflegen. Zu guter Letzt küßten sich
die zwei. „Bravo," dachte der Landrat. „Alles stimmt. Ja, nun er-
innere ich mich genau. — Sehen wir weiter zu!"

Jetzt kamen beide, perspektivisch zunächst verkürzt, aus dem Hinter-
grund einer Straße hervor, durch einen Kiefernwald. Sie waren nicht
sittsam; sie schubsten sich mit den Ellenbogen ... Sie liefen nach
Ruppin in das Abendrot hinein, zum Onkel Theo, der die zahme
Hirschkuh hatte. Sie gingen schnell vorüber, links in die Ecke des
Bildes; zu guter Letzt flimmerten ibre Gesichter und wurden ganz

groß und undeutlich. Aber der Landrat hatte doch noch Zeit gehabt
zu bemerken, daß Ottokar nun ein schlanker, großer Knabe war, mit
einer scharfen Nase, beiläufig fünfzehn Jahre alt, etwas zart von
Farbe war, aber frisch; und Lisbeth ein bald ausgewachsenes Frauen-
zimmer mit gedrehten Locken und gekreuzten Schuhbändern. Er selbst,
Ottokar, trug eine knappe Jacke mit doppelreihigen Messingknöpfen
und dazu weiße lange Hosen, die ihm gut standen. „Schade, daß es
so schnell ging!" dachte er, aber es half nichts; denn nun erschien
flugs das

dritte Bild

und hier war er ein Mann und stand in der Stube, die wir schon
kennen.

Ein junger Mann! Er stand an dem Tisch und grübelte. Welche
Situation war es doch? .. Etwas mußte ihm schwer auf dem Herzen
liegen. Er trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte,
drehte sich ins Profil, und sein Gesicht senkte sich bekümmert mit
gefalteter Stirn; es war, als kröche sein Hinterkopf noch etwas tiefer
in den aufgesteppten Rockkragen. Dann setzte er sich und schlug die
Beine übereinander, was der Form seiner Hosen keinen Abbruch tat,
denn sie wurden mit einer Stoffstrippe unter der Sohle festgespannt.
Er war eine Erscheinung von einfacher Eleganz, die selbst in der Un-
ruhe noch Haltung in jedem Punkt wahrte; man sah, daß er sich
nicht so leicht aus der Fassung bringen lasse.

Der Apparat am Ende des Saales begann schneller zu surren, und
die Musik pulsierte drängender. Etwas war im Anzug ... Nun er-
schien Lisbeth als ausgewachsenes Mädchen. Der Landrat im Fauteuil

war fast erschrocken, so schön fand er sie; und zugleich wußte er mit
einer entsetzlichen Deutlichkeit, was nun geschehen werde. „Tu ihr
nichts!" wollte er dem jungen Mann zuschreien; „tu ihr nichts an!"
Aber er war machtlos, und sein Schrei erstickte in einem Seufzer;
denn vor ihm entwickelte sich alles erbarmungslos historisch; Schlag
auf Schlag; ein heftiges Gebärdenspiel, ein Wechsel von Licht und
Schatten in den Mienen. Der Schatten blieb, ihr Gesicht war wie
tot. Sie hatte sich erhoben; er hatte das Band zwischen ihnen brutal
zerrissen. Den Kopf senkend, wandte sie sich zur Seite. Ihr Gesicht
zuckte zum Greifen deutlich, halb nach vorne gewandt, in mühsamem
Schluchzen... Da geschah etwas Unerwartetes.

Der neunjährige Knabe des ersten Bildes kam wieder hervor. Er
kam wie ein Gespenstlein; hatte etwas Geisterhaftes. Durch seine
Person hindurch sah man wie durch ganz trübes Glas die Dinge ver-
schwommen schimmern. Er schlich sich an Lisbeth heran, reckte sich
in die Höhe und fuhr ibr mit der Hand übers Gesicht; und sie, starren
Blickes nickte mit dem Kopf irgendwohin ... Dann sprach sie mit ihm,
vielleicht war es das Wort: „Ja, damals, damals!" - - — Nun
aber raffte sich der junge Mann, der inzwischen die Hände vor das
Gesicht gehalten batte, zusammen, wurde ganz gerade wie aus Holz
und rief irgend etwas Brutales, Gellendes, Böses. Was er gerufen,
das wußte nur der alte Landrat, das klang in seine» eigenen Herzen
Silbe für Silbe auf, wie ein schriller Schrei, den selbst die Zeit und
die Taubheit des Lichtspiels nicht zu dämpfen vermochte. Gleichzeitig
pausierte die Musik nach einem kleinen schwachen Wirbeltusch von
wüster Tonfarbe; und das Gespenst des Kindes zitterte, als habe cs

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Otto Nückel: Illustrationen zum Text "Der Film des Todes"
 
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