einen mörderischen Schlag bekom-
men, streckte die Hände aus und
taumelte ruckweise zurück, bis es,
gänzlich verblüffend, mit dem Vor-
hang verschmolz. Die Musik griff
auf das Stück der Ouvertüre zu-
rück, auf die quälenden hohen Pas-
sagen, die unaufhaltsamem Kinder-
weinen glichen; und der Landrat,
der dies alles erbebend und wider
Willen wahrgenommcn hatte, dachte:
„Mein Gott, warum habe ich das
getan! Ja, so war e$J — Mich
selbst habe ich vergewaltigt, erstickt,
ermordet, zunichte gemacht! — —
Das war ein Frevel! ein unsühn-
barer Frevel!" und Schwermut
verdunkelte sein Herz. — Nun wurde die Musik zu einem tonlosen
Summen, bei dem man an eine breite trübe Flut dachte oder auch
an eine Reihe kalter inhaltloser Jahre. Nur vereinzelt blitzten darin
Bruchstücke von Motiven auf und versanken wieder. Ein viertes
Bild erschien, und nun sah der Landrat noch einmal die Stube seiner
Kindheit wieder.
Eine farblose Dämmerung herrschte. Und wie hinter Regen-
schleiern, endlos rauschenden, schrie in seiner Brust, ganz schrill und
zart, ein unersättliches Verlangen auf: sich noch einmal zu sehen,
wie er damals war, als er mit dem Kopf an den Handgriff der Kom-
mode schlug!
Der alte Landrat erhob sich im Fauteuil. Der Apparat summte
gleichmütig weiter, wie eine große Fliege an dunkler Fensterscheibe.
Und ein grauer Schatten kroch, aus allen Winkeln schwärend,
über die Gegenstände des Zimmers; langsam verdunkelte eS sich zu
einem toten, gleichmäßigen Grau. Da tappte der Alte aus der Sitzreihe
hervor, je näher er dem Bilde kam, desto schneller surrte der Apparat.
Wie eine emsige, quälende Arbeit klangs herab, als mühe man sich
heiß ab, etwas auf der grauen Fläche entstehen zu laffen, was sich
sträubte, Gestalt zu gewinnen; als jage man mit aufgepeitschter
Hast einem Punkte zu, der kommen mußte, naturnotwendig
kommen mußte... und jetzt... und jetzt...
Eine kleine schwarze Silhouette
formte sich, die Silhouette des
Knaben. Zögernd kam er näher, in
abweisender Haltung voll Wider-
streben. Er stand als schwarzer,
unbeweglicher Umriß an der
Wand.
Auf einmal spürte der Greis,
wie man ihn von hinten aufhielt.
„Halten Sie sich auf die Seite!"
tönte die Stimme des Mannes,
den er am Schalter gesehen. „Ge-
hen Sie nicht heran, sonst fällt Ihr
eigener Schatten auf das Bild und
löscht es aus!..." Der Landrat
biclt inne. Da blitzte ein Licht auf
dem Bilde auf und wurde zur
Flamme auf einem kleinen Kerzenstumpf, den der Knabe in der Hand
hielt. Und das weiche Oval des jungen Gesichtes hob sich bestrahlt
und deutlich aus dem Grunde; es war von makelloser Reinheit, und
alle toten Wünsche wachten darin auf und zuckten um Mund und
Brauen... Und die Stimme sprach weiter hinter dem Landrat, dun-
kel und tief, wie eine Posaune: „Siehst Du, das hast Du nun be-
seffen, das warst Du, das waren Deine Möglichkeiten; cs war kein
leichtes Stück Arbeit, Dir das plausibel zu machen. Da hast Du
nun Dein ungeborenes Söhnchen! — — Nachher lösch ich Euch beide
aus, denn ihr seid ja ein und dieselbe Person, ganz ein und dieselbe
Person!"
Der Knabe begann zu lächeln. Der Greis taumelte nach vorne in
den Lichtkegel hinein. Er brachte es nicht über sich, zu widerstehn ...
Da verdeckte sein eigener unförmiger Schatten das Bild, schluckte eS
spurlos auf; er tastete nach dem Knaben, blind in den eigenen Schat-
ten hinein, doch das, woran seine mageren Hände schlugen, war eine
kahle, glatte fühllose Fläche von Gips. Er prallte mit der Stirn da-
gegen und stürzte zusammen.
Da war es, als ob die Saiten all der unsichtbaren Instrumente
mit einem Rucke platzten; und die Musik endete in einem jähen dis-
harmonischen Schrei.
TRANSRADIOPAN
VON RUDOLF SCHNEIDER
Schon im Herbst 1925 wurde das erste Kinoprogramm von New-
york nach Hamburg gefunkt. Die Vorstellung fand in der Alhambra
statt, und die Bilder zeichneten sich vor allem dadurch aus, daß sie
nicht flimmerten. Ein Fortschritt also in jeder Hinsicht. Zwei Jahre
später tauchten die ersten Kinoempfängcr für Privathäuser aus, das
war zu der Zeit, als ein jeder schon das Radiophon mit sich herum-
trug, jenen kleinen Apparat, mit dessen Hilfe man ungeniert von
der Straße oder der Tram aus mit jeglichem Menschen der Erde
sprechen konnte, soferne der andere nur einen Anschluß besaß. Da-
mals setzte sich an Stelle der bisherigen Namen das Nummernsystem
für die Menschheit durch. Die Damen trugen die Nummer ihrer
Welle, vor die man beim Gespräch nur die jeweilige Entfernungs-
zone zu setzen brauchte, sichtbar als Brosche auf dem Busen; und am
meisten jubelten über die Neuerung die Mäuschen, die im Cafe so
gerne Bekanntschaften machen, und die Kavaliere, die ein Abenteuer
suchen. Nun zog man nicht mehr den Hut und errötete, sondern man
funkte quer durchs Lokal: „Hier Welle 0031, haben Sie Lust? Bin
der Herr am Ecktisch linke, neben der Säule." Das Mäuschen
funkte zurück: „Beseht!" oder „Sehr angenehm; wer aber bezahlt
meinen Kaffee?" und die Sache war so oder so im reinen.
Im Jahre 1933 gab es, laut einer Statistik, in Europa nur noch
drei Familien ohne Radiophoto, jenen kleinen, elektrisch geladenen
Kasten, der eö erlaubte, ein beliebige» Programm eines der großen
Cinemaverlage überall in jeder gewünschten Vergrößerung ablaufen
zu laffen, wo eine kleine helle Fläche zur Verfügung stand. Fein-
schmecker betrieben dieses Vergnügen abends im Bett, bauschten das
Plumcaux über den aufgestellten Knicen hoch, ließen den Lichtkegel
des Radiophotos daraus fallen und betrachteten „die Lieblingsfrau
des Maharadjah" so lange, bis sie selig entschlummerten.
Die eigentliche Entwicklung aber begann erst mit dem Jahre 35.
Es wurde die Überwindung des Raumes und sozusagen auch der Zeit
zur Wirklichkeit. Profeffor Garragan aus Potsdam vollbrachte nach
vielen geheimen und mißglückten Versuchen die Tat und funkte eine
Semmel, auch Schrippe genannt, mit Hilfe eines sogenannten
magnetischen Fängers von Berlin nach Dresden, wo sie in delikatem
Zustand ankam und von der begeisterten Prüfungskommiffion sofort
aufgezehrt wurde. Ein zweiter Versuch mit München fiel womöglich
noch glänzender aus, entbehrte jedoch nicht eines tragischen Bei-
geschmackes. Garragan, der das Experiment wiederum mit einer
Semmel ausführte, brachte bei dem Versuch seine Hand dem Sender
zu nahe, was ihn einen Zeigefinger kostete, der rettungslos mit nach
München ging und dort auch zusammen mit der Semmel ankam, wie
nach einigen Minuten das Radiophon mitteilte. Die Münchener
Herren meldeten: „Semmel vortrefflich; Schwcinswürstchen war
etwas knorpelig, machen hier befferc."
Nun gab es kein Halten mehr. Experimente am lebenden Objekt
641
men, streckte die Hände aus und
taumelte ruckweise zurück, bis es,
gänzlich verblüffend, mit dem Vor-
hang verschmolz. Die Musik griff
auf das Stück der Ouvertüre zu-
rück, auf die quälenden hohen Pas-
sagen, die unaufhaltsamem Kinder-
weinen glichen; und der Landrat,
der dies alles erbebend und wider
Willen wahrgenommcn hatte, dachte:
„Mein Gott, warum habe ich das
getan! Ja, so war e$J — Mich
selbst habe ich vergewaltigt, erstickt,
ermordet, zunichte gemacht! — —
Das war ein Frevel! ein unsühn-
barer Frevel!" und Schwermut
verdunkelte sein Herz. — Nun wurde die Musik zu einem tonlosen
Summen, bei dem man an eine breite trübe Flut dachte oder auch
an eine Reihe kalter inhaltloser Jahre. Nur vereinzelt blitzten darin
Bruchstücke von Motiven auf und versanken wieder. Ein viertes
Bild erschien, und nun sah der Landrat noch einmal die Stube seiner
Kindheit wieder.
Eine farblose Dämmerung herrschte. Und wie hinter Regen-
schleiern, endlos rauschenden, schrie in seiner Brust, ganz schrill und
zart, ein unersättliches Verlangen auf: sich noch einmal zu sehen,
wie er damals war, als er mit dem Kopf an den Handgriff der Kom-
mode schlug!
Der alte Landrat erhob sich im Fauteuil. Der Apparat summte
gleichmütig weiter, wie eine große Fliege an dunkler Fensterscheibe.
Und ein grauer Schatten kroch, aus allen Winkeln schwärend,
über die Gegenstände des Zimmers; langsam verdunkelte eS sich zu
einem toten, gleichmäßigen Grau. Da tappte der Alte aus der Sitzreihe
hervor, je näher er dem Bilde kam, desto schneller surrte der Apparat.
Wie eine emsige, quälende Arbeit klangs herab, als mühe man sich
heiß ab, etwas auf der grauen Fläche entstehen zu laffen, was sich
sträubte, Gestalt zu gewinnen; als jage man mit aufgepeitschter
Hast einem Punkte zu, der kommen mußte, naturnotwendig
kommen mußte... und jetzt... und jetzt...
Eine kleine schwarze Silhouette
formte sich, die Silhouette des
Knaben. Zögernd kam er näher, in
abweisender Haltung voll Wider-
streben. Er stand als schwarzer,
unbeweglicher Umriß an der
Wand.
Auf einmal spürte der Greis,
wie man ihn von hinten aufhielt.
„Halten Sie sich auf die Seite!"
tönte die Stimme des Mannes,
den er am Schalter gesehen. „Ge-
hen Sie nicht heran, sonst fällt Ihr
eigener Schatten auf das Bild und
löscht es aus!..." Der Landrat
biclt inne. Da blitzte ein Licht auf
dem Bilde auf und wurde zur
Flamme auf einem kleinen Kerzenstumpf, den der Knabe in der Hand
hielt. Und das weiche Oval des jungen Gesichtes hob sich bestrahlt
und deutlich aus dem Grunde; es war von makelloser Reinheit, und
alle toten Wünsche wachten darin auf und zuckten um Mund und
Brauen... Und die Stimme sprach weiter hinter dem Landrat, dun-
kel und tief, wie eine Posaune: „Siehst Du, das hast Du nun be-
seffen, das warst Du, das waren Deine Möglichkeiten; cs war kein
leichtes Stück Arbeit, Dir das plausibel zu machen. Da hast Du
nun Dein ungeborenes Söhnchen! — — Nachher lösch ich Euch beide
aus, denn ihr seid ja ein und dieselbe Person, ganz ein und dieselbe
Person!"
Der Knabe begann zu lächeln. Der Greis taumelte nach vorne in
den Lichtkegel hinein. Er brachte es nicht über sich, zu widerstehn ...
Da verdeckte sein eigener unförmiger Schatten das Bild, schluckte eS
spurlos auf; er tastete nach dem Knaben, blind in den eigenen Schat-
ten hinein, doch das, woran seine mageren Hände schlugen, war eine
kahle, glatte fühllose Fläche von Gips. Er prallte mit der Stirn da-
gegen und stürzte zusammen.
Da war es, als ob die Saiten all der unsichtbaren Instrumente
mit einem Rucke platzten; und die Musik endete in einem jähen dis-
harmonischen Schrei.
TRANSRADIOPAN
VON RUDOLF SCHNEIDER
Schon im Herbst 1925 wurde das erste Kinoprogramm von New-
york nach Hamburg gefunkt. Die Vorstellung fand in der Alhambra
statt, und die Bilder zeichneten sich vor allem dadurch aus, daß sie
nicht flimmerten. Ein Fortschritt also in jeder Hinsicht. Zwei Jahre
später tauchten die ersten Kinoempfängcr für Privathäuser aus, das
war zu der Zeit, als ein jeder schon das Radiophon mit sich herum-
trug, jenen kleinen Apparat, mit dessen Hilfe man ungeniert von
der Straße oder der Tram aus mit jeglichem Menschen der Erde
sprechen konnte, soferne der andere nur einen Anschluß besaß. Da-
mals setzte sich an Stelle der bisherigen Namen das Nummernsystem
für die Menschheit durch. Die Damen trugen die Nummer ihrer
Welle, vor die man beim Gespräch nur die jeweilige Entfernungs-
zone zu setzen brauchte, sichtbar als Brosche auf dem Busen; und am
meisten jubelten über die Neuerung die Mäuschen, die im Cafe so
gerne Bekanntschaften machen, und die Kavaliere, die ein Abenteuer
suchen. Nun zog man nicht mehr den Hut und errötete, sondern man
funkte quer durchs Lokal: „Hier Welle 0031, haben Sie Lust? Bin
der Herr am Ecktisch linke, neben der Säule." Das Mäuschen
funkte zurück: „Beseht!" oder „Sehr angenehm; wer aber bezahlt
meinen Kaffee?" und die Sache war so oder so im reinen.
Im Jahre 1933 gab es, laut einer Statistik, in Europa nur noch
drei Familien ohne Radiophoto, jenen kleinen, elektrisch geladenen
Kasten, der eö erlaubte, ein beliebige» Programm eines der großen
Cinemaverlage überall in jeder gewünschten Vergrößerung ablaufen
zu laffen, wo eine kleine helle Fläche zur Verfügung stand. Fein-
schmecker betrieben dieses Vergnügen abends im Bett, bauschten das
Plumcaux über den aufgestellten Knicen hoch, ließen den Lichtkegel
des Radiophotos daraus fallen und betrachteten „die Lieblingsfrau
des Maharadjah" so lange, bis sie selig entschlummerten.
Die eigentliche Entwicklung aber begann erst mit dem Jahre 35.
Es wurde die Überwindung des Raumes und sozusagen auch der Zeit
zur Wirklichkeit. Profeffor Garragan aus Potsdam vollbrachte nach
vielen geheimen und mißglückten Versuchen die Tat und funkte eine
Semmel, auch Schrippe genannt, mit Hilfe eines sogenannten
magnetischen Fängers von Berlin nach Dresden, wo sie in delikatem
Zustand ankam und von der begeisterten Prüfungskommiffion sofort
aufgezehrt wurde. Ein zweiter Versuch mit München fiel womöglich
noch glänzender aus, entbehrte jedoch nicht eines tragischen Bei-
geschmackes. Garragan, der das Experiment wiederum mit einer
Semmel ausführte, brachte bei dem Versuch seine Hand dem Sender
zu nahe, was ihn einen Zeigefinger kostete, der rettungslos mit nach
München ging und dort auch zusammen mit der Semmel ankam, wie
nach einigen Minuten das Radiophon mitteilte. Die Münchener
Herren meldeten: „Semmel vortrefflich; Schwcinswürstchen war
etwas knorpelig, machen hier befferc."
Nun gab es kein Halten mehr. Experimente am lebenden Objekt
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