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JJ TU O"

2 9. JAHRGANG

EMU)

1924 / NR. 41

E R L Ö

Hundshaariger Hochgebirgslandregen, Jahrgang 1924, vorüber-
gehend verstärkt durch örtliche Gewitterbildungen, spritzte, gurgelte,
peitschte und prasielte auf Dach und Scheiben des riesigen Post-
autos, das in mehr als unvorschriftsmäßigem Tempo die hinterhäl-
tigen Daucrserpentinen von der Paßhöhe (2187 m über der Adria)
talabwärts flitzte, rutschte, schleuderte und schwankte.

Hinum — herum!

Bei Hinum, wenn die gaach ausgemauerte Kunststraße einer Fel-
sennase ausbog, zwickte jeder Fahrgast ohne Unterschied des Alters
und Geschlechts seinen rechten Nachbarn instinktiv in den linken
Oberarm. Bei Herum, wenn eine mubrcnschwangere Bergrinne auS-
gefahren wurde, entgegen-
gesetzt. Manchmal auch um-
gekehrt. Anfangs pflegte
man für die plumpen Ver-
traulichkeiten noch um Ent-
schuldigung zu bitten. Mit
der Zeit streifte man die
ermüdenden Formalitäten
ab. Vom Wetter sprach
niemand mehr. Es sprach
für sich selbst. Niemand
wollte mehr die Fenster-
scheiben abwischen. Im Ge-
genteil. Man empfand den
undurchdringlichen Anhauch
als mitleidigen Schleier,
der herüben das abschüssige
Grauen bedeckte, drüben
aber die ekelhaft scharfen
Kanten der starrenden
Steilwände. Auch den
Chauffeur, der vorne mit
einer fabelhaften Wurstig-
keit an seinem Steuer her-
umspielte, verlangte nie-
mand zu beobachten. Mebr-
malS batte der verwegene
junge Mensch in der letzten
Stunde zwecks Einnabme
erwärmender Getränke kur;
aber ausgiebig angebalten.

Vor der Trattoria Inner*
kofler, vor der Locanda
al Jockele, vor dem AI*
bcrgo Speckbacher und
wie die altrömischcn Fir-
men dieser Gegend so beißen
mochten.

Hinum — herum!

Ein schmerzhafter Ruck,
der die Vergnügungsreisen-
den zur Abwechslung verti-
kal in die Höhe schmiß und
vermutlich einer besonders
tief ausgesckwemmtcn Was-
scrrinne zu verdanken war,
löste wieder die gelähmten
Zungen. „Skandal!" —

8 U N G

„Er ist besoffen!" — „Fürchterlich!" — „Nie wieder!" — „Unsere
armen Kinder!" — „Aussteigen lasten!" — „Irrsinn!" — „Wie
weit haben wir noch?" — „Zirka 15 Kilometer," erklärte ein glet-
scherbrandiger Herr, „wenn wir lebendig hinunterkommen. Hier muß
nämlich die Stelle in der Nähe sein, wo vor acht Tagen ein Privat-
auto in den Abgrund..." — Schrille Aufschreie. „Bitte nicht!" —
Die Damen hielten sich die Ohren zu. Auch Herren. Hochzeitsreisende
umklammerten sich krampfhaft wie die „Lebensmüden" am Dampf-
schifffteg.

In der Mitte der vorletzten Bank saß ein alter einheimischer
Pfarrer, rund, mild und unrasiert. Alle hatten plötzlich das dumpfe

Gefühl, dieser Mann müffe
jetzt eigentlich von Berufs
wegen in Funktion treten
und eine Art von letzten
Tröstungen spenden.Grauen-
haft, was der Himmel
eigentlich alles zulaste —
was alles passiere. Das
allermeiste aber passiere
beim Autofahren!

Da winkte der erfahrene
Seelenhirte aber energisch
ab. Und unter atemloser
Spannung der gemischten
Gemeinde tönte es aus tief-
ster Überzeugung durch den
ratternden Raum: „Nanu
— söll nitta — vüll dös
mehr« pastürt lei alleweil
noch zhauS im Bätt!" —
Kurze Pause. Dann
Kichern. Dann Brüllen.
Dröhnendes, befreiendes
Bravobrüllcn durch die
ganze Arche. Jede weitere
Kurve wurde unter bacchan-
tischem Schaukeln mit Hal-
loh angepöbelt. Zwei Rei-
sende aus der norddeutschen
Tiefebene ließen Mikosch-
witze springen. Eine aus-
gesprochen frivole Lcbensbe-
jahung durchtobte die At-
mosphäre, die noch kurz vor-
her nach nichts anderem ge-
rochen als nach Leder und
Loden, Tabak und Todes-
angst!

„Sein woll alle a wengl
bsuff'n?" fragte der Wirt
in der Talstation den Pfar-
rer.

„Woll woll, a wengl
bsuff'n," nickte der wackre
Mann Gottes und schritt
kopfschüttelnd seinem Wi-
dum zu.

I. A. Sowas

Das Bad der Magd Friedrich Heubner

102?
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Friedrich (Fritz) Heubner: Das Bad der Magd
J. A. Sowas: Erlösung
 
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