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Wahrheit: der Pfropfenzieher, ein bißchen unorthographisch unter
F, ein reiner Kragen für Besuche bei Minister unter N, die Schnei-
derrechnung unter X und die alten, im Notfälle immer noch wie neu
wirkenden Korrespondenz-Leitartikel unter O bis W. Der Politische
zerrte die stark vergilbten Drucke ans Licht. Während ihm das Haupt
auf die Brust sank, klebte er einen der Artikel auf das nächste er-
reichbare Papier; der Leim rann ihm dabei über die Rockärmel, weil
der Topf sich durchaus nicht geradhalten lassen wollte und wie ein
beleidigter Zitteraal tanzte. „Lies mal vor," bat der führende Jour-
nalist stöhnend den Setzling. „Gegen die internationalen Mädchen-
händler," buchstabierte der Schulentlassene errötend. Seine letzte
Kraft zusammenraffend, aschfahl im Gesicht, hauchte der Liebling
des Lesepublikums: „Sage ihm, er soll unter keinen Umständen etwas
von Abbau, Verankern, Auslösen drin stehen lassen, auch darf in
dem Artikel nichts irgenwie „aufgezogen" oder „sabotiert" werden.
Alle Zitate aus „Wilhelm Tcll" herausstreichen! Dafür soll er „Un-
terbewusstsein" und „Detektor des öffentlichen Gewissens" hinein-
korrigieren lassen. Ebenso Si cluo faciunt idem, non est idem oder
Britannia, rule the waves! Auf diese Weise wird der Artikel
brennend aktuell und wirkt wie heute geschrieben."

Damit entschlief er und der Bengel entwich.

*

Es mußte etwas geschehen, er wusste nur nicht was. Der Abge-
ordnete spießte den zerkauten Zigarrenstummel auf den zerkauten
Federhalter, liest die Blicke durchs Zimmer schweifen, gähnte, sah
nach der Uhr und benahm sich überhaupt so, als höre er in der
Kammer wohlwollend die Rede eines Parteigegners an. Wie lange
aber hatte er selber im Hohen Hause schon nicht mehr gesprochen! Irgend

eine Interpellation war fällig. Die Herren von der Regierung sollten
merken, dass er auch noch da war. Schon der nahe bevorstehenden
Kabinettsumbildung wegen durfte er nicht länger im Hintergründe
bleiben. In den letzten Monaten hatten die Zeitungen seinen Namen
nur noch gelegentlich einer großen Prügelei erwähnt, wo er mutig
den Fraktionschef vor den Angriffen gereizter Kommunisten gedeckt
hatte. Ob der Kerl sich erkenntlich zeigen und ihm eine Spitzenkandi-
datur sichern würde? Ähnlich sah es dem ekelhaften alten Schleicher
nicht. Also galt es, sich selber den Wählern in Erinnerung bringen.
Sie hatten zwar bei der Wahl längst nichts mehr zu sagen, das be-
sorgte ausschließlich die Parteileitung, aber umso dankbarer würden
ihm die gutmütigen Trottel sein.

Ärgerlich, daß das JntcrpellationSgebiet so abgegrast war! Gab eS
denn noch eine originelle Anfrage? Wenn 450 erwachsene Männer
vier geschlagene Jahre lang nichts zu tun haben als Missstände auf-
zuspüren, dann kann kein anständiger Mifistand mehr gedeihen.

Von ohngefähr fiel der Blick des Abgeordneten auf die Abendzei-
tung seiner Partei, die ihn grundsätzlich totschwieg und die er deshalb
als Schandpresse verachtete. Sein Auge weitete sich. „Gegen die
internationalen Mädchenhändler!" Sapperment! Gute Idee und so
modern geschrieben! „Unterbewusstsein — Detektor des öffentlichen
Gewissens — Si duo faciunt idem, non est idem! Britannia,
rule the waves!" — alles kam darin vor. Auf was für raffinierte
Geschichten diese geriebenen Zeitungsbrüder doch immer verfielen!
Eine Interpellation über die Mädchenhändler! Tatsächlich, darum
hatte sich in der ganzen Session keine fühlende Brust gekümmert! Das
musste wie eine gefrorene Bombe einschlagen! Entschlossen hatte der
Abgeordnete alle Müdigkeit abgcstreift. Die rostige Feder knirschte
übers Papier. „Ist die Regierung willens und imstande, Auskunft zu

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Alfred Hagel: Wandbild
 
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