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PFARRER ANDERSON

VON ELISABETH VON CASTONIER

Am leichtesten zu behandeln war der Lustmörder Ivar, der schon
seit vier Jahren im Zuchthaus zu 3: in Nordschweden saß. Er war still
und in sich gekehrt, völlig der Arbeit hingcgcbcn, die abwechselnd
in Tütenkleben, Schuhbenageln und, da seine Führung stets tadellos
war, auch öfters in Landarbeit auf dem zum Zuchthaus gehörigen
Acker bestand. Mit seinen Leidensgenoffen, die zumeist aus Raub-
mördern und Einbruchdicbcn in wiederholtem Falle bestanden, sprach
er fast nicht und selbst der alte Wärter Peterscn hatte nie ein anderes
Wort von ihm gehört als einen kurzen Dank für Arbeitsmaterial.

Nur der fast siebzigjährige Pfarrer Anderson, der Tag für Tag
seinen Rundgang durch die Zellen unternahm, hatte cs nach langem
Bemühen fertiggebracht, den Schweigsamen zum Reden zu bringen.
Denn Anderson verstand die große Kunst, sich so völlig in die Lage
eines anderen zu versetzen, daß der Betreffende nicht mehr das Ge-
fühl hatte, er spreche mit einem, der besser sei als er, sondern mit
seinesgleichen.

„Sieh mal, Ivar," hatte er seiner Zeit den Schweigsamen an-
geredet, „wir Menschen begehen alle Sünden, mehr oder weniger
große, und nur ein glücklicher Zufall bewahrt manche davor, eine so

große Sünde zu begehen, die einem anderen Menschen Schaden oder
gar den Tod bringt. Viele Menschen sind so vom Bösen beseffen,
daß sie irgendetwas tun, was sie eigentlich gar nicht tun wollten, und
bereuen eine Tat, die nicht mehr gut gemacht werden kann."

/,Jch weiß auch nicht, wie ich damals die Kleine in den Keller
locken konnte — aber sie stand vor mir und sah mich so — so dämlich
an, daß mir ganz anders wurde. Und als sie nachher still dalag, bin
ich wie wahnsinnig zur Polizei gelaufen und Hab' gesagt, daß ich ein
rotes Kind im Keller gefunden habe. Der Inspektor aber hat mich
so schlau gefragt, was ich um die Zeit in dem fremden Keller zu
suchen hatte, und da habe ich schließlich gesagt, wie eö war. Ich muß
aber immer daran denken und wenn ich allein bin und scharf lausche,
höre ich ihre Stimme..."

„Nein, Ivar, Du hörst nicht ihre Stimme, sondern Dein Ge-
wissen, das Dir immer und immer wieder zuruft: .Warum hast Du
das getan?' Hättest Du damals Dich nicht der Polizei gestellt, so wäre
vielleicht nichts herausgekommen und Du säßest nicht hier — so aber
bist Du bestraft für das, was Du getan, und wenn Du heraus-











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Weihnachismärchen

R. v. Hoerschelmann

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Rolf v. Hoerschelmann: Weihnachtsmärchen
Elisabeth Castonier geb. Borchardt: Pfarrer Anderson
 
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