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Der winterliche Berg

A n g crmann - Sandmeicr

Jahren, wenn Du sparsam warst, wirst Du wie viele andere vor
Dir einen Hausstand gründen. Du mußt dann nicht vergessen, mich
zu besuchen..."

So ging Anderson jahraus jahrein von Zelle zu Zelle und sprach
mit denen, die er seine unglücklichen Brüder nannte.

Nicht immer gelang es ihm wie mit Jvar, sie zum Reden zu
bringen, denn alle, die dort eingeliefert wurden, fürchteten, nur aus-
spioniert und für versehentlich erzählte, noch unbestrafte Delikte er-
neut vor den Richter gebracht zu werden.

Da war zum Beispiel der alte Raubmörder Bagersen, der fünf
Jahre lang Andersons Versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen,
widerstanden und sogar eines Tages den Pfarrer zu beschimpfen ge-
wagt hatte.

Aber Anderson hatte die bösen Worte nicht gehört, sondern den
Alten ohne ein Wort zu erwidern, so ruhig angesehen, daß er jäh
verstummte.

Am nächsten Tage, der zufällig ein Sonntag war, öffnete sich die
Türe zu BagcrscnS Zelle und Anderson stand lächelnd und freundlich
wie immer auf der Schwelle. In seinen Händen hielt er ein kleines
Paket.

„Du warst gestern scheinbar in sehr schlechter Laune, Bagerscn. Des-
balb bringe ich Dir heute eine kleine Aufmunterung."

Sprachs, überreichte dem Erstaunten das Paket und verschwand.
Als Bagerscn das Päckchen öffnete, fand er zu seiner Verwunderung
eine hübsche kleine Pfeife und guten Tabak vor.

Von jenem Tage ab waren Anderson und Bagersen die besten
Freunde, und als Bagerscn eines Tages entlassen wurde, ging er
zunächst als Gast und Gartenarbcitcr zu Anderson, bis ilm derselbe
als Knecht auf einem großen Gute untergebracht hatte.

Nicht alle von den vielen, die im Laufe der Jahre unter Andersons

verstehende Augen kamen, verschwanden völlig aus seinem Gesichts-
kreis. Es gab sehr viele, die nach einigen Jahren plötzlich wieder in
irgendeiner Zelle saßen und Anderson freudig begrüßten, wenn er
auf seinem Rundgang zu ihnen kam.

Aber Anderson war nicht der Mensch, deswegen vorwurfsvoll zu
sein. Zunächst begrüßte er den Wiedergckehrtcn voll warmer Herz-
lichkeit, ließ sich von ihm erzählen, was er inzwischen getrieben, und
kam so ganz allmählich auf den Punkt, wo der andere die Frage
erwartete, warum er wieder hier sei.

Und wenn er Antwort erhalten, so tat Anderson ganz so, als
spräche er mit einem Komplizen und sagte, er könne ganz gut ver-
stehen, daß das wieder passiert sei. Er wisse aus Erfahrung, daß es
ungeheuer große Selbstbeherrschung koste, sich zu beherrschen — aber
schließlich und endlich könne jeder in seine alten Fehler verfallen;
cs wäre aber doch ratsam, zu versuchen, nicht mehr an diesen Ort zu-
rückzukchren.

„Wenn Du wieder einmal so große Lust hast, mich wicdcrzusehn,
so komm lieber zu mir auf mein Landhaus, da kannst Du fort, wenn
Du Lust hast — hier ist cö doch nicht so schön, daß man immer
wiederherkommen möchte — nicht wahr?"

So versuchte Anderson Jahr für Jahr, Tag für Tag und Stunde
für Stunde, jenen, die, wie er cö zu nennen pflegte, sich die Sache
vorher nicht genau überlegt hatten, das Dasein zu erleichtern und seine
geistliche Mission weniger durch Worte als durch Taten zu erfüllen,
wenngleich er durch diese Art und Weise seiner Auffassung auch oft
genug mit seiner obersten Behörde in Konflikt kam. Er ging sogar
in seiner Fürsorge um das Wohl der Gefangenen so weit, ihnen
persönlich kleine Vergnügungen zu bereiten, weil cs seiner Auffassung
entsprach, weniger zu strafen oder mit Strafe zu drohen, als zu
bessern und störrische Hartnäckigkeit durch Güte zu mildern.

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