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31. JAHRGANG

1926 / NR 2

N I C H I N A

VON THEODOR PLIVIER

Unser Boot hatte uns an Land gesetzt.

Und waö Land ist, wie unsere Schuhe auf die Bohlen der höl-
zernen Mole aufklappten, wie steif und stoßend es hierbei in unseren
Gelenken war, das wissen nur die, die wie wir einhundertundzehn
Tage Fahrt hinter sich hatten von ihrem letzten Hafen her.

Und nur die und jene noch, die aus langer Gefangenschaft ge-
kommen sind und zum erstenmal wieder durch die Straßen einer
Stadt gehen, wissen, welche Offenbarung Gottes jeder schmutzige
Straßenjunge uns war, jedes Weib, das mit einem Säugling an
seinen Brüsten vor der Haustüre saß und jeder Kerl, der soeben aus
einer Kneipe ausgespieen
wurde.

Peter Lindftröm, der an
Bord mit harten finni-
schen Fäusten seine Head-
mannschaft verteidigte,
umarmte einen vollgefres-
senen Schnapswirt und
küßte ihn, daß ihm der
Atem ausging.

„Bruder!" sagte er,

„unser Käpt'n ist der ver-
fluchte Sohn einer Hure;
aber du bist ein Gentle-
man! Schenk die Gläser
voll; wir saufen den
Schnaps aus Litergläsern
.. das Faß auf den Tisch!

Gesundheit auf die
schwarze Milly Newcastle!

Gesundheit auf unseren
dicken Wirt!

Gesundheit auf unseren
Methusalem!"

Methusalem aber war
ich, denn ich war der
Jüngste an Bord.

Einer, der sich uns zu-
gesellt hatte, übernahm die
Führung: Straßen im

Mondschein, die mit ihren
niedrigen Baracken ange-
klebt schienen an die Steil-
küste des Felsengebirges,
verlassen brennende Later-
nen, herrenlose Hunde,

Polizisten, Burschen und
Mädchen im Schatten,
den die Häuser warfen...

Kneipen zogen an uns vor-
bei, menschenleer die eine,
in der anderen eine Hand-
voll brauner Gesellen, um
ein Faß herumsitzend, in
noch einer anderen ein
paar zerlumpte Weiber;
diese schlecht beleuchteten

Tavernen trieben an uns vorbei wie trübe Feuer einer vergessenen
Flußauffahrt.

Dann fanden wir das Fandangohaus.

Hier war ein Knäuel von Farben und eine dunkle Musik, trom-
melnd und pulsierend wie das Blut in jungen Leibern. Frauen-
hände auf den Saiten von Guitarren, Frauenhände auf hölzernen

kleinen Pauken-und alles drehte sich, schwarzhaarige Gauner-

visagen, Antlitze von Königen der Cordilleren, Matrosen in Blusen ..
ein bloßer Schenkel, weiße Schultern und Brüste, übergossen von
Streifen fließenden Tuches: ein Wirbel von bebendem Fleisch und

lohenden Farben, und in-
mitten der Zamacueca, in-
mitten von blühenden Lei-
bern üppiger Frauen, die
Brüste entfesselten, Len-
den die Fanale des Rau-
sches empor trugen und zu
einem gigantischen Schrei
rasender Luft wurden:
Nichina!

Nichina, ein schlankes,
bronzefarbenes Mädchen,
zarter war sie als alle die
anderen, karger und weni-
ger hoch gewachsen war
sie, als alle die anderen;
aber sie war eine Flamme,
die alle überlohte, die die
Wolken dichten Tabaks-
qualmes und das Bretter-
dach der elenden Fan-
dangobude durchstieß.

Der Zimmermann eines
in der Bucht ankernden
Schiffes, der groß und
breit war, wie ein Bär
und tappig und gebückt um
sie herumtanzte, schien nur
bis zu ihren Knien zu
reichen. Die Rufe eines
befoffenenenglifchen Steu-
ermannes: „paloma mia,
paloma mia ... schick sie
zum Teufel, in die Hölle
die andern, — drei Pfund
aebe ich dir, drei Pfund
Sterling, eine halbe Mo-
natsbeuer, zum Teufel mit
diesem verfluchten Dutch-
man!" — die Rufe prall-
ten von ihren elfenbein-
harten Schenkeln ab, und
wurden unter die Füße ge-
tanzt.

Den Kopf hintenüber
Lithographie von T. v. Szadurska geworfen, die Augen ge-

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Register
Kasia v. Szadurska: Zeichnung ohne Titel
Theodor Plivier (Plievier): Nichina
 
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