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Die Furcht

Max Kellerer

DAS GRAU E N

Von Paul Herd

Auch Alfred Kubin hat den
Schreck gezeichnet: ein fürchter-
liches Tigerungeheuer bedroht
ein zitterndes, kleines Mensch-
lein. Aber das ist es nicht, was
ich meine. Nicht das Entsetzen
draußen im Felde, wenn die
Granaten einschlugen und eine
zerrissene Masse von Dreck und
Stein, Pserdeleibern und Men-
schengliedern in die Luft fetzten.
Ebensowenig ist es die Todes-
angst der Ertrinkenden, der Ab-
sturz von einem Felsen in un-
endliche Tiefe, der Mord, das
Verbrennen — alles dies ist
furchtbar, aber eS ist etwas
Lebendiges, etwas, das das
Hirn fassen, daö Auge sehen
kann. DaS Grauen aber ist
etwas Anderes. Es ist etwas
Heimliches, Verhülltes, eine
namenlose Drohung!

In meiner Jugend habe ich
eS einmal erlebt. Im Hause
meiner Eltern war ein Teil des
ersten Stockes durch einen
Vorhang verhängt. Wenn ich
abends den Eltern unten im
Salon gute Nacht gewünscht
hatte und die Treppen hinaus-
eilte in mein Kinderzimmer deö
zweiten Stockes, mußte ich an
dem Vorhang vorbei. Unten
brannte die Gaskuppel und oben
leuchtete ein Schimmer aus
dem Kinderzimmer. Im ersten
Stock aber war Halbdunkel.
Und da war neben der Treppe
dieser lange, große Vorhang,
hinter dem das Dunkel lauerte.
Das Dunkel, und noch etwas
unsagbar Furchtbares, was sich
mit Worten nicht ausdrücken
läßt, das aber meine Kinder-
seele nicht ertragen konnte. Das
Herz in der Kehle, zögerte ich
auf der Treppe, nahm dann
einen Anlauf und raste über
den Korridor an dem Vorhang
vorbei, um mit jagenden Pulsen
die zweite Treppe zu erwischen.
Manchmal bewegte sich der
Vorhang ganz leise, und dann
dachte ich, daß ich sterben müßte.
Und einmal fiel ich in der Haft
hin, kurz vor dem Vorhang.
Da verbarg ich meinen Kopf in
meine Arme und erwartete, von
Entsetzen geschüttelt — ja,
was erwartete ich — vielleicht
irgend eine eiskalte Gespenster-
hand oder die verzerrte Fratze
eines Mörders. Man kann das
nicht wissen oder sagen. Ich
weiß nur eines: — das war das
Grauen.

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Max Kellerer: Die Furcht
Paul Herd: Das Grauen
 
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